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Klipp & Klar

2050

Das fixe Datum für den Ausstieg aus der fossilen Energie ist ein Freipass für jede Form des politischen Aktivismus und staatlichen Interventionismus.

Kurt Weigelt am 18. Oktober 2021

Im Jahre 1949 publizierte George Orwell seinen berühmtesten Roman. Ausgehend von den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus beschrieb er das Horrorbild einer totalitären Gesellschaft, in der alle Gedanken überwacht werden. Genial nicht nur der Inhalt, sondern auch der Titel. 1984. Einfacher und einprägsamer geht es nicht. Eine Jahreszahl gibt den Takt vor.

Auf die Kraft von Jahreszahlen, die in der Zukunft liegen, setzt auch die Politik. Beispielsweise die Alpeninitiative. Im Jahre 1994 nahm das Schweizer Volk den Alpenschutz-Artikel in der Bundesverfassung an. Dieser beauftragt den Bund, das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs zu schützen.

Konkretisiert wurde der Alpenschutz-Artikel im Jahre 1999 mit dem Verkehrsverlagerungsgesetz. Und dies mit glasklaren Zielen: Bis 2009 muss die Zahl der alpenüberquerenden Lastwagenfahrten auf 650'000 reduziert werden. So die Ansage. 2009, 650’00, ohne Wenn und Aber.

Allerdings, mit der Wirklichkeit hatten diese beiden Zahlen nichts zu tun. 2008 änderte das Parlament den Fahrplan. Die Frist für das Erreichen des Verlagerungsziel wurde auf das Jahr 2018 hinausgeschoben, zwei Jahre nach Eröffnung des Gotthard-Basistunnels.

Einmal mehr ohne Erfolg. Das gesetzliche Verlagerungsziel blieb auch nach der Eröffnung des Eisenbahntunnels toter Buchstabe. Die von den Initianten des Alpenschutz-Artikels punktgenau formulierten Ziele funktionierten als wirkungsvolle Heilsversprechen im Abstimmungskampf. Von der Realität jedoch waren diese meilenweit entfernt.

Immerhin, heute durchqueren «nur» noch knapp 900'000 Lastwagen den Gotthard, rund 300'000 weniger als noch 2010. Dies hat aber, so das aktuelle Monitoring des Bundes, kaum etwas mit der Eröffnung des Lötschbergtunnels und des Gotthard-Basistunnels zu tun. Weit entscheidender war die Einführung der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe LSVA.

Allerdings bewegt sich auch dieser Erfolg auf sehr einem dünnen umweltpolitischen Eis. Die LSVA brachte Entlastung für die lärmgeplagten Urner. Dies jedoch auf Kosten unserer Nachbarn im Westen und vor allem im Osten. Am Brenner brachte es der Schwerverkehr im Jahre 2018 auf 2,4 Millionen Fahrten, 550'000 mehr als 2010. Unsere Verlagerung war erfolgreich. Allerdings nicht von der Strasse auf die Schiene, als vielmehr von der Schweiz nach Österreich und Frankreich.

Schnee von gestern?

Die Erfahrungen mit dem Alpenschutz-Artikel lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Fazit 1: Falsche Versprechen

Zwischen politischem Marketing und politischer Wirklichkeit liegen Welten. Die mit dem Alpenschutz-Artikel verbundenen Versprechen waren quantitativ und auf der Zeitsachse reines Wunschdenken.

Fazit 2: Rechenfehler

Nicht nur Politiker, auch Experten rechnen falsch. Bis heute erweisen sich alle Berechnungen zum Verlagerungspotenzial des Lötschbergtunnels und des Gotthardbasistunnels als Luftschlösser.

Fazit 3: Nebenwirkungen

Auf komplexe Herausforderungen gibt es keine einfachen Antworten. Die Alpenschutz-Artikel schützt die Alpen nicht. Er verlagert lediglich das Problem von der Schweiz in unsere Nachbarländer.

Kritische Leser dieses Artikels werden mir entgegenhalten, dies sei alles Schnee von gestern. Das Volk hat an der Urne entschieden. Die seinerzeit Verantwortlichen sind schon längst in Rente. Mit den Folgen ihrer Fehlentscheidungen haben sich nichts zu tun. Die Tunnels sind gebaut, über 20 Milliarden Franken investiert. Und selbst wenn sich die in Aussicht gestellte Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene nicht einstellt, so profitieren wenigstens die Pendler im Oberwallis und die Touristen mit Ziel Tessin. Ein sehr bescheidenes Kosten-Nutzenverhältnis. Aber, was soll’s. Geld spielt in der Politik bekanntlich keine Rolle.

Politisches Marketing

Nur, die Geschichte wiederholt sich, wenn auch in ganz anderen Dimensionen. In der Klimapolitik. Hier heisst das Zauberwort nicht 1984 oder 2009, sondern 2050. Denn bis 2050 sollen die Treibhausgasemissionen der Schweiz auf Netto-Null sinken. Der Bundesrat will dieses Ziel als direkten Gegenentwurf zur Gletscher-Initiative in die Verfassung schreiben.

Man höre ein staune. Ein Bundesrat, der nicht in der Lage ist, die Verlagerungseffekte seiner Alpenschutz-Politik auch nur ansatzweise zu prognostizieren, weiss haargenau, bis wann die tausendfach komplexere Verlagerung von fossilen zu nachhaltigen Energiequellen abgeschlossen sein wird.

Einmal mehr wird ein Ziel vorgegeben, das sehr viel mit politischem Marketing und nur wenig mit der Realität zu tun hat. Die knackige Jahreszahl 2050 eignet sich bestens als ultimative Drohgebärde, als politisches Totschlagargument. Und dies mit einer klaren politischen Agenda. Das fixe Datum für den Ausstieg aus der fossilen Energie ist ein Freipass für jede Form des politischen Aktivismus und staatlichen Interventionismus.

Der Abschied von der fossilen Energie ist richtig und wichtig. Nicht nur in Europa, auch in den USA, in China und in Indien. Der Übergang von der Industriegesellschaft zur digitalen Gesellschaft muss sich in der Art und Weise widerspiegeln, wie wir mit unseren natürlichen Ressourcen verfahren. Nachhaltigkeit ist das Gebot der Stunde, digitale Innovationen sind unsere Chance.

Strukturen und Systeme, die sich über zweihundert Jahre entwickelten, lassen sich jedoch nicht über Nacht aus der Welt schaffen. Jedenfalls nicht ohne dramatische Kollateralschäden. Operative Hektik löst keine Probleme. Auch nicht in der Klimapolitik.

Bild: Filmbetrachter auf Pixabay

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Autor/in
Kurt Weigelt

Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.

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