Bald geht die Sommersession des eidgenössischen Parlaments in die zweite Woche. Obwohl diesmal als ‘ordentlich’ bezeichnet, nicht wirklich als Normalbetrieb: In für Beratungen nur bedingt geeigneten Messehallen funktioniert vieles anders.
Ich jedenfalls traf niemanden, den die massiv überteuerten Expo-Provisorien echt überzeugt hätten. Doch die meisten KollegInnen stellen sich Unabänderlichem mit Gelassenheit und Humor. Man orientiert sich möglichst an Positivem. So ist der auf eine Tischfläche ausgeweitete Arbeitsbereich ganz praktisch. Und obwohl man’s noch immer nicht geschafft hat, während Beratungen die Projektionsflächen sinnvoll zu nutzen, sind wenigstens Abstimmungen wieder in Echtzeit verfolgbar. Das erleichtert Orientierung und Taktik. Dementsprechend können Enthaltungen vieles bedeuten, von ‘irrelevant’ über ‘beides überzeugt wenig’ bis ‘ohne die Haltung der Fraktionsmehrheit zu teilen bleibe ich solidarisch’ oder ‘trotz verpasster Chancen helfen wir nicht, das Projekt zu versenken’.
Traktandiert sind etliche Aufräumarbeiten aus seinerzeit unter bedeutenderem Virendruck abgebrochenen respektive spezifisch angesetzten Sessionswochen. Zum Beispiel waren bei den Geschäftsmieten von behördlich geschlossenen Lokalen die Mehrheiten in National- und Ständerat sich schon im Mai einig: Für wenig kooperative Akteure ist eine politische Auffanglösung besser als Prozesslawinen. Nur schafften es die vorberatenden Kommissionen unter suboptimalen Bedingungen nicht, sich rechtzeitig auf eine Variante zu einigen. Manches erfordert halt persönliche Gespräche und: Zeit.
Nachdem in der frühen Covid19-Krise Bevölkerung und Parteien sich grossmehrheitlich solidarisch mit dem Bundesrat gezeigt hatten, sind inzwischen wieder vertraute Muster beobachtbar. Eine bekannte Variante lautet ‘SVP gegen den Rest der Welt’ – und deren meistvernommener Antrag ‘biffer’ (streichen). Andere Entscheide verlaufen nach gängiger Links-Rechts-Orientierung mit wechselnden Nationalrats-Mehrheiten von typischerweise gut Hundert zu vielleicht Achtzig oder Neunzig Stimmen. Aber nicht immer: Sport-Themen scheinen fraktionsübergreifend zu verbinden - interessanterweise mehr als das Etikett ‘Kultur’. Auch Stichentscheid der Ratspräsidentin kommt vor. So kann es sich lohnen, präsent und aufmerksam zu bleiben.
Einmal leuchtet am Abstimmungstableau gar ein fast perfektes Schmetterlings-Muster auf: Breite grüne Randflächen signalisieren geschlossene Zustimmung von Links- wie Rechts-Aussen, ebenso aus den vorderen Reihen der Mitte-Sektoren. Und in Rot steuern hintere Mitte-Ränge kritische Haltungen aus FDP und CVP bei. Schön. Doch worum ging es? Diesmal um eine Differenzierung zwischen Gross- und Weniger-Verdienenden bei erforderlichen Kürzungen - anstelle eines ‘Rasenmäher’-Ansatzes.
Häufig geht es um Geld. Um sehr viel Geld. Aber auch um Orientierung: Darum, wohin die Reise gehen soll. Gut ist nach so aussergewöhnlichen Zeiten auch unser Parlament wieder unterwegs in eine neue ‘Normalität’. Wie die Bevölkerung. Einerseits gilt es dabei nicht fahrlässig in alte Gewohnheiten zurückzufallen, andererseits aber den beherzten Ausstieg aus unverhältnismässigem Übersteuern zu wagen. So ist z.B. das rituell wiederaufkommende Händeschütteln derzeit wenig hilfreich. Auch Massenversammlungen mit viel Emotionen und Bier werden kaum das Vordringlichste sein, wenn man keine schmerzhaften Rückschläge will. Andererseits wird das Meiden von Freizeitsport, Papierkontakt u.ä. kaum relevant zu einer Risikominderung beitragen, so wenig wie Chirurgenmasken an gesunden Personen allein auf weiter Flur.
Bestenfalls lassen wir uns auf eine nüchtern-pragmatische Risikokultur ein. Im Wissen, dass Risiken zum Leben gehören - und dass sie sich intelligent-vorausschauend eingrenzen lassen. Dies gilt nicht nur für Epidemien, sondern sollte auch selbstverständlich sein in Verkehr, Haushalt, Beruf… – und ganz besonders bei schleichenden und daher besonders heiklen, weil nicht umkehrbaren Prozessen wie Klimawandel und Biodiversitätsverarmung.
Haben wir nicht soeben erlebt, wozu wir gemeinsam fähig sind – sofern wir etwas ernsthaft wollen?
Thomas Brunner (*1960) ist seit Dezember 2019 im Nationalrat. Er vertritt dort die Grünliberale Partei (GLP) des Kantons St.Gallen.
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