Die Schweiz ist ein Entwicklungsland. Jedenfalls, was die Intensivpflege angeht. Wir hinken dem Ausland hinterher. Warum? Wir hätten die besten Voraussetzungen. Darauf gibt es keine schlüssige Antwort. Höchstens diese: Die Politik will es so.
GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer hat es in einem Interview wie nebenbei erwähnt, aber es ist Tatsache: Im internationalen Vergleich ist die Schweiz abgeschlagen, wenn es um verfügbare Plätze im Bereich der Intensivstationen geht. Das Bundesamt für Gesundheit hat bekanntlich recht früh in der Coronasituation die Zahl der verfügbaren Betten in der Statistik heruntergeschraubt und argumentiert seither damit, dass es ja mit einem Bett allein nicht getan sei, es brauche auch qualifiziertes Personal, das dieses Bett beziehungsweise den Patienten betreut.
Das ist völlig korrekt. Die Frage ist nur: Warum haben wir dieses Personal nicht?
Ein paar nüchterne Fakten. Wer in der Schweiz im Spital liegt, hat gute Chancen, vom zuständigen Arzt auf Hochdeutsch angesprochen zu werden. Und nicht selten auch vom Pflegepersonal. Der Grund ist einfach: Die Schweiz ist ein Hochlohnland, und wer einen Beruf gelernt hat, der sich auch in der Schweiz ausüben lässt, hat allen Grund, das hier zu machen. Man verdient einfach besser. Selbst wenn man die höheren Lebenshaltungskosten in Rechnung zieht, ist schnell klar: Ein Ostdeutscher, der in seiner Heimat Medizin studiert hat, tut gut daran, in die Schweiz zu ziehen. Es geht ihm materiell einfach besser. Und deshalb strömen Ausländer zu uns.
Und dieses Land, in dem Milch und Honig fliessen, hat Mühe, qualifiziertes Personal zu finden? Das darf man natürlich glauben. Warum auch nicht, man kann auch von der Existenz von Einhörnern überzeugt sein.
Seit 1,5 Jahren jagt eine Massnahme gegen das Coronavirus die andere, aber der Bundesrat hat zu keinem Zeitpunkt ein Wort darüber verloren, wie er das Gesundheitssystem auf das Level bringt, das nötig wäre, um echte oder erfundene Überlastungen aufzufangen. Nie wurde am «Point de presse» darüber gesprochen, was nun an der Front passiert, also bei den angeblich völlig überbelegten Spitälern. Stets ging es nur darum, wie man Leute vom Spital fernhält, nie war es ein Thema, wie man die Kapazitäten an diesen Spitälern auf ein international gebräuchliches Level hochfährt.
Verdankenswerterweise hat sogar die Zeitung «20 Minuten», ansonsten ein treuer Erfüllungsgehilfe des Bundes, diese Frage in den Raum gestellt. Auf ihre Fragen hiess es sinngemäss: Es kostet halt viel Geld, diesen Standard zu erreichen.
Wir sprechen wohlgemerkt vom reichsten Land der Welt, das gerade davon spricht, den milliardenschweren Verlegern von Zeitungen Hunderte von Millionen in den Rachen zu stopfen, aber natürlich: Ein Ausbau des Gesundheitswesens ist völlig undenkbar. Ende der Ironie.
Man glaubt gern, dass das hiesige Pflegepersonal aktuell auf dem Zahnfleisch läuft, nur ist es leicht absurd, wenn dieses wütend auf Massnahmenkritiker oder Ungeimpfte ist. Wenn jemand schuld ist an der Überlastung des Einzelnen, dann ist es die Politik. Dieselbe Politik, die das Covidzertifikat als neuen Fetisch pflegt und die völlig ungefährliche Gastronomie stranguliert. Während sie das tut, rührt sie keinen Finger, um im Pflegebereich die Kapazitäten hochzufahren. Das wäre in Sekundenschnelle möglich: Die Schweiz würde umgehend überflutet von den entsprechenden gut ausgebildeten Fachkräften, wenn sie den Wunsch hätte.
Man wird den Eindruck nicht los, dass die offizielle Schweiz das gar nicht will, sondern lieber eine Überlastung des Gesundheitswesens beklagt, die die Türen öffnet für weitere Massnahmen gegen Ungeimpfte.
Der Bund hat den klaren, durch die Verfassung vorgegebenen Auftrag, ein Gesundheitssystem anzubieten, das die aktuellen Bedürfnisse abdeckt. Er tut das nicht und zäumt lieber das Pferd vom anderen Ende auf: Er diskriminiert eine ganze Volksgruppe und sperrt sie vom gesellschaftlichen Leben aus. Kein Mensch fragt, ob es nicht andersrum möglich wäre: Die Pflegekapazitäten auf ein immerhin halbwegs international gebräuchliches Level anzuheben und so sicherzustellen, dass Covidpatienten betreut und auch andere Operationen durchgeführt werden können.
Wenn ein Land dazu in Kürze in der Lage ist, dann die Schweiz. Wir haben das Geld und die Infrastruktur dazu. Es würde sogar einen Bruchteil dessen kosten, was uns die aktuellen Massnahmen an Entschädigungen und Unterstützungen an Ausgaben bescheren.
Das heisst: Es wäre möglich, aber die Politik will nicht. Bundesrat Alain Berset, als Innenminister nebenbei für die Gesundheit zuständig, hat in den letzten Monaten nie auch ein einziges Wort darüber verloren, wie das hiesige Gesundheitswesen aufgemotzt werden könnte. Sein einziges Thema war die Eindämmung eines Virus, das sich gar nicht eindämmen lässt.
Das ist eine Unterlassung ersten Grades. In einem privaten Unternehmen müsste jemand, der das eigentliche Problem so sträflich vernachlässigt, längst den Hut nehmen. Aber wir sprechen ja nicht von einem privaten Unternehmen, sondern vom Staat.
Und dort, das ist die Lektion, geht es nicht um die Frage, was Sinn macht. Ganz im Gegenteil.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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