Die Ostschweizer Bevölkerung wird gemäss den Bevölkerungsszenarien des Bundes langsamer wachsen als diejenige der Schweiz. Als Folge wird der Anteil der älteren Personen in der Ostschweiz stärker steigen und derjenige der Jungen stärker sinken.
St.Gallen und die beiden Appenzell müssen bei den Jungen sogar mit einem absoluten Rückgang rechnen. Das hat Folgen für das Bildungssystem. Bei der Berufslehre, nach wie vor dem zentralen Ausbildungsbereich in der Ostschweiz, müssen St.Gallen und die beiden Appenzell mit einem Rückgang der Auszubildenden rechnen. Auch bei den gymnasialen Maturitätsschulen drohen sinkende Schülerzahlen. Im Thurgau ist die Herausforderung aufgrund eines höheren Bevölkerungswachstums dagegen kleiner.
Demographischer Wandel und Bildungssystem
Der demographische Wandel wird nicht nur die Altersvorsorge und das Gesundheitssystem vor grundlegende Herausforderungen stellen. Betroffen ist auch das Bildungssystem. Je nach Szenarium zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung wird nicht nur der Anteil der jungen Bevölkerung sinken, sondern es könnte sogar zu einem Rückgang bei den absoluten Zahlen kommen. Aufgrund des relativ tiefen Bevölkerungswachstums ist die Ostschweiz von diesem Wandel speziell stark betroffen. Bereits seit Beginn des Jahrtausends musste in der Ostschweiz ein Rückgang der jungen Bevölkerung verzeichnet werden, welcher zumindest in St.Gallen und den beiden Appenzell weiterhin anhält. Die Folgen zeigen sich in der Bildung, wo sinkende Schülerzahlen zu Anpassungen bei den Schulen zwingen. In der Berufsbildung machen sich die tieferen Zahlen unter anderem in einem verstärkten Wettbewerb um potenzielle Lehrlinge bemerkbar. Lehrverträge mit den besten Kandidatinnen und Kandidaten werden immer früher abgeschlossen, und es können nicht mehr alle Lehrstellen besetzt werden.
Gebremster Rückgang bei der Zahl der Jungen
In der Ostschweiz ist bereits seit Beginn des Jahrtausends ein ausgeprägter Rückgang bei der Bevölkerung unter 18 Jahren zu beobachten. Eine Reihe von Gründen ist für diesen Rückgang verantwortlich. Erstens wuchsen die Ostschweizer Kantone in der 1990er Jahren langsamer, was vor allem bei der Zahl der jungen Familien Spuren hinterliess. Insbesondere jüngere Erwachsene verlassen die Ostschweiz. Dies verstärkte den Trend der sinkenden Geburtenraten und trug zu einem deutlichen Rückgang bei den Geburten bei. Die Ostschweiz verliert nach wie vor Einwohner an andere Schweizer Regionen. Die Einwanderung aus dem Ausland führt zwar zu einem positiven Bevölkerungswachstum, dieses ist im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen aber tief.
Während die Schweiz als Ganzes nach 2000 nur einen leichten Rückgang bei den 6- bis 18-jährigen verzeichnen musste, fiel dieser in der Ostschweiz deutlich aus. Am stärksten betroffen waren die beiden Appenzell, welche bei dieser Bevölkerungsgruppe einen Rückgang von mehr als einem Viertel verkraften mussten (Abbildung 1). Bei St.Gallen waren es 15%, bei Thurgau immer noch 13%. Ob der Tiefpunkt damit bereits erreicht ist, hängt insbesondere von den Wanderungsbewegungen ab. Der grosse Unterschied zwischen den verschiedenen Bevölkerungsszenarien ist die internationale Migration, d.h. die Zahl von Eingewanderten minus Ausgewanderten. Im tiefen Szenario wird sich der Schweizer Wanderungssaldo in den nächsten Jahren auf 40'000 Personen pro Jahr reduzieren, im Vergleich zu 71'000 im 2016 und 51'000 im 2017. Im Referenzszenario wird bis 2030 ein Wanderungssaldo von 60'000 Personen pro Jahr angenommen, im hohen Szenario ein solcher von 80'000. Interessanterweise liegen die Zahlen für das Referenzszenario damit leicht unter dem Wert von 2017. Ergibt sich daraus ein Trend, könnte das effektive Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahren unter den Prognosen des Referenzszenarios liegen. Damit wäre die lange Serie von zu tiefen Bevölkerungsprognosen des Bundes beendet.
Bei den Kantonen kommen die interkantonalen Wanderungen hinzu. St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden haben in den letzten Jahrzehnten Personen an andere Kantone verloren, d.h. einen negativen Wanderungssaldo mit dem Rest der Schweiz. Fällt die Zuwanderung aus dem Ausland kleiner aus, führt dies zu stärkeren negativen Effekten auf die Gesamtzahl der Bevölkerung. Während der Thurgau oder die Schweiz als Ganzes 2045 auch im tiefen Szenario noch deutlich wachsen, wäre in St.Gallen mit nur noch leichtem Wachstum und in den beiden Appenzell mit einem Rückgang der Bevölkerung zu rechnen. Diese Unterschiede zeigen sich bei der jungen Bevölkerung auf noch ausgeprägtere Art und Weise. Während der Thurgau im Referenzszenario mit einer Stabilisierung der Anzahl der Jungen rechnen kann, müssten sich St.Gallen und die beiden Appenzell auf einen anhaltenden Rückgang einstellen.
Bildungsszenarien
Die demographische Entwicklung hinterlässt ihre Spuren bei der Anzahl der Auszubildenden. Bei Berufslehre und Maturitätsschulen ist die Entwicklung im Vergleich zur Entwicklung der 0 bis 18-Jährigen etwas nach hinten verschoben, da es sich um die älteren Jahrgänge handelt. Die Bildungsszenarien reichen allerdings nur bis ins Jahr 2027 und sind damit kürzer als die Bevölkerungsszenarien. Für Appenzell Innerrhoden werden vom BfS aufgrund der kleinen absoluten Zahl der Auszubildenden keine Zahlen publiziert.
Bis 2009 waren bei der Berufslehre steigende Zahlen zu verzeichnen, inzwischen hat in der Ostschweiz aber ein deutlicher Negativtrend eingesetzt, der laut Szenarien anhalten wird (Abbildung 2). Im Referenzszenario wird der Tiefpunkt in St.Gallen erst 2023 erreicht sein, im Thurgau im 2022 und in Appenzell Ausserrhoden im 2021. Im Vergleich zum Höhepunkt von 2009 würde St.Gallen rund 15%, Appenzell Ausserrhoden und Thurgau rund 10% verlieren. Im tiefen Szenario würde sich die Zahl der Lehrabsolventen in St.Gallen und Thurgau nicht mehr erholen und auch im Referenzszenario weit unter den Höchstwerten bleiben. In der Schweiz als Ganzes fällt der Rückgang kleiner und die folgende Erholung kräftiger aus.
Die Maturitätsschulen haben in der Ostschweiz gemessen an der Anzahl Schüler eine relativ kleine Bedeutung. In St.Gallen besuchten im Jahr 2017 rund 2’600 Schüler eine Maturitätsschule, während rund 18'000 eine Lehre absolvierten. Im Thurgau ist das Gewicht der Maturitätsschulen etwas grösser, mit einem Verhältnis von rund 1’400 Gymnasiasten zu 5'600 Lehrlingen. Für St.Gallen rechnet das BfS bis 2022 mit einem Rückgang bei den Gymnasiasten, danach mit einem leichten Anstieg (Abbildung 3). Für den Thurgau wird dagegen mit einem anhaltenden Wachstum gerechnet. Da die zahlenmässige Bedeutung der Maturitätsschulen kleiner ist, können allerdings bereits kleine relative Verschiebungen zwischen Bildungswegen zu grossen absoluten Änderungen führen. Das erklärt auch die hohen Fluktuationen in Appenzell Ausserrhoden. Es würde damit nicht überraschen, wenn der prognostizierte Rückgang bei den Appenzeller Gymnasiasten zumindest nicht in diesem Ausmass stattfinden würde.
Digitalisierung als zusätzliche Herausforderung
Die demographische Entwicklung wird Anpassungen bei den Schulen und bei den Betrieben nötig machen. Bereits jetzt ist ein verstärkter Wettbewerb der Betriebe um Lehrlinge festzustellen, welche unter anderem zu einem immer früheren Abschluss der Verträge führt. In Zukunft ist allerdings noch mit anderen Veränderungen zu rechnen, welche die Auswirkungen der sinkenden Zahlen von Auszubildenden ausgleichen könnte. Insbesondere die Digitalisierung wird die Zahl der benötigten Arbeitskräfte und damit auch der Auszubildenden beeinflussen. Die nötigen Qualifikationen werden sich durch die Digitalisierung verändern. Gewisse Berufe werden an Bedeutung verlieren, andere an Bedeutung gewinnen. Die vollständigen Auswirkungen auf die Ausbildung werden sich durch dieses Spiel von Angebot und Nachfrage ergeben. Reine Angebotsprognosen greifen dabei zu kurz.
Dr. Frank Bodmer ist Leiter von IHK-Research, dem volkswirtschaftlichen Kompetenzzentrum der IHK St.Gallen-Appenzell.
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