Angesichts sinkender Fallzahlen fragt sich manch einer, warum die Schule derzeit so stark ins Visier der Schutztruppen gerät. Grundlage für diverse Kantone ist eine Studie aus dem Kanton Zürich. Doch wer die Erkenntnisse der Forscher liest, sucht vergeblich nach entsprechenden Empfehlungen.
An immer mehr Schulen in der Schweiz sinkt die Altersgrenze für die Maskenpflicht für Kinder. Wir haben das bereits thematisiert. Es stellt sich die Frage, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Gab es einen konkreten Anstoss für diese verstärkte Offensive? Liefern die nackten Zahlen genügend Gründe, um die Schulen stärker ins Gebet zu nehmen?
Schauen wir für einmal über den regionalen Tellerrand und nehmen das Volksschulamt des Kantons Solothurn als Beispiel. Denn es klingt ohnehin vielerorts ähnlich. Nicht überraschend, da die generelle Ausgangslage kantonsübergreifend dieselbe ist.
In einer «Anordnung des Volksschulamts vom 21. Januar 2021», gültig ab Montag, 25. Januar 2021, halten die Solothurner fest, dass an den Schulen «grössere Ausbrüche verhindert werden» konnten. Das wird den «bisher ergriffenen Massnahmen zugeschrieben.» Diese Schilderung würde dafür sprechen, die getroffenen Massnahmen weiterzuführen: Distanz, die Lehrperson trägt Maske, man lüftet auch bei Schneesturm, Eltern können nicht einfach mal vorbeischauen und so weiter.
Doch Fehlanzeige, es sei angezeigt, «proaktiv die Schutzmassnahmen auszudehnen.» Grund ist die «Fallentwicklung der britischen Mutationsvariante in Nachbarskantonen». Konkret müssen Solothurner Schulkinder neu bereits ab der 5. Klasse Maske tragen. Denn es gebe eine «zunehmende Bedeutung von Kindern bereits ab zehn Jahren» bei der Übertragung des Virus.
Kinder werden also bei sinkendem Alter immer gefährlicher. Woher die Solothurner dieses Wissen haben? Sie beziehen sich auf eine Studie, die für einmal keinen komplexen wissenschaftlichen Namen trägt, sondern «Ciao Corona» heisst. Ziemlich hemdsärmelig, und so geht es auch weiter. Auf der Webseite von «Ciao Corona» wird man wie folgt begrüsst: «Hallo du! Cool, dass du unsere Website besuchst.» Die Webseite richtet sich also an Kinder.
Dahinter steckt «eine Gruppe von Forschern der Universität Zürich, die herausfinden möchten, in welchem Mass Kinder und Jugendliche vom Corona-Virus angesteckt waren, und ob du andere Kinder und Jugendliche anstecken kannst und sie dich.» Herausfinden wollen das die Forscher mit freiwilligen Corona-Antikörpertests an diversen Zürcher Schulen mit rund 2500 Schülerinnen und Schülern. Und es wird herzlich gebeten, doch auch mitzumachen. «Ciao Corona» ist in erster Linie ein Werbetool, mit dem Eltern animiert werden sollen, ihre Kinder testen zu lassen und die Hemmschwelle dafür bei Kindern sinken zu lassen.
Was genau aber haben die Forscher, die hier mit Kindern kommunizieren, denn herausgefunden, das so alarmierend ist und zusätzliche Massnahmen erfordert? Das müsste die vom Kanton Solothurn erwähnte Studie zeigen. Aktuell sind die Resultate der zweiten Testreihe online zu finden, die vom 22. Dezember 2020 datieren.
Die wichtigsten Ergebnisse fasst «Ciao Corona» gleich einleitend selbst zusammen :
«Knapp 8% aller Kinder hatten bis Mitte Oktober eine Corona-Infektion durchgemacht. Keine ganzen Schulen und nur sehr wenige Klassen zeigten eine Häufung von Corona-Infektionen.»
Das klingt gut. Wobei: Oktober? Das ist lange her, deshalb wurde man danach noch einmal aktiv mit einem zusätzlichen Akut-Testing, «um die Entscheidungsfindung von Bund und Kantonen zu unterstützen.» Getestet wurden 641 Schulkinder und 66 Lehrpersonen. In dieser sogenannten Substudie muss ja offenbar etwas Dramatisches passiert sein, wenn die Ausdehner der Maskenpflicht sich auf diese Studie beziehen. Schauen wir mal:
«Das Resultat: Nur ein getestetes Kind (0,2%) und keine Lehrperson waren aktuell Virusträger. (…) Diese sehr niedrige Zahl stützt die Beobachtung aus der Hauptstudie, dass es im aktuellen Schulbetrieb mit den von den Schulen getroffenen Massnahmen und den Vorgaben der kantonalen Gesundheitsdirektionen kaum zu unbemerkten Ausbrüchen kommt»
Wie kann man nun von diesen sehr beruhigenden Erkenntnissen eine erhöhte Dringlichkeit für zusätzliche Massnahmen wie Maskenpflicht bei jüngeren Kindern ableiten? Denn immerhin beruft sich das Volksschulamt Solothurn auf die Studie «Ciao Corona», obschon diese eigentlich nur belegt, wie gut die bisherigen Massnahmen funktioniert haben.
Das passiert auf zwei Wegen. Zum einen kann der Istzustand noch so gut sein, es gibt da ja die berühmt-berüchtigten Mutanten, über deren Verhalten man nach wie vor so wenig weiss, dass man getrost sicherheitshalber vom Schlimmsten ausgehen kann. Zum anderen wird eine andere Angst aufgebaut, die die Akzeptanz für zusätzliche Massnahmen erhöhen soll. Oder wie es die Solothurner schreiben: Man wolle mit der neuen Verordnung einen Beitrag dafür leisten, «den Präsenzunterricht möglichst lange aufrecht zu erhalten.»
Sprich: Die Zahlen in den Schulen sind laut der Studie, auf die man sich beruft, äusserst tief, aber man weiss nie, was kommt, und man will weiter physischen Unterricht erteilen, also macht man «proaktiv» mehr als bisher. Man kann das natürlich positiv besetzt «Prävention» nennen. Aber auch diese benötigt eine halbwegs haltbare Grundlage. Man bläst ja auch nicht zur Grossoffensive auf die Raucher, wenn ihre Zahl marginal ist.
Parallel dazu wird an Schulen bekanntlich immer häufiger - und das auch auf Empfehlung der Task Force - zur Quarantäne gegriffen beim Auftauchen von Fällen. Das sei viel sinnvoller als das Schliessen ganzer Schulen. Der Quarantäne schreibt man es zu, dass bei der Untersuchung in Zürich «nur wenige Klassen mit einer Häufung von Fällen» festgestellt wurden.
Quarantäne: Schön und gut. Offenbar funktioniert das ja. Doch die Solothurner haben darüber hinaus die Maske ab der 5. Klasse verordnet, andere gehen noch weiter. Alles aus Angst vor dem britischen Mutanten. Aber in der gesamten Mitteilung zur zweiten Testreihe inklusive Substudie erwähnt die Studie «Ciao Corona» kein einziges Mal mutierte Viren, welche die Lage verschärfen. Warum nimmt das Volksschulamt Solothurn also Bezug zu dieser Studie und nimmt sie als Anlass für eine Verschärfung der Maskenpflicht?
Auch das Thema des Alters des Schulkinders wird von «Ciao Corona» gar nicht erst aufgebracht. Jedenfalls nicht in der Kommunikation gegen aussen. Möglich, dass die Frage in den detaillierten Zahlen der Studie angetönt wird. Aber wenn die Studie eine «zunehmende Bedeutung von Kindern bereits ab zehn Jahren bei der Übertragung des Virus» ergeben hat, wäre das dann nicht signifikant genug gewesen, um auch in der zusammenfassenden Mitteilung der Forscher als Information aufzutauchen?
Für Eltern, die der Maskenpflicht für eine immer tiefere Altersgruppe kritisch gegenüberstehen, ist die Situation jedenfalls sehr unbefriedigend. Erhärtete Zahlen, die sich nicht auf mögliche Auswirkungen von Mutanten beziehen, sondern klar zeigen, dass eine immer jüngere Altersgruppe das Virus trägt und verbreitet, würde die Akzeptanz der Massnahme wohl erhöhen. Aber das Volksschulamt beruft sich auf eine Studie, die in weiten Teilen besagt, wie gut die bisherigen Massnahmen funktioniert haben - mehr nicht. Weder Mutanten noch immer jünger werdende Virenverbreiter sind da ein Thema.
Im Prinzip passiert mit den Schulen derzeit gerade dasselbe wie mit den Restaurants. Man lässt sie erfolgreiche Massnahmen ausführen, stellt fest, dass sie funktionieren - und legt dann dennoch sicherheitshalber einen weiteren Holzscheit nach. Mit dem Unterschied, dass Restaurants nach Belieben geschlossen werden, die Schulen aber unbedingt offen bleiben sollen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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