Während des Notrechts war die Bundesversammlung ausgebremst. Inzwischen ist das Covid19-Gesetz in Kraft. Nach diesem müssen vor Bundesratsentscheiden die zuständigen Kommissionen konsultiert werden. Wie die neueste Massnahmenrunde zeigt, ist das reine Symbolpolitik.
Die Kommissionen von National- und Ständerat sind in normalen Zeiten durchaus machtvolle Gremien. Was sie sagen beziehungsweise empfehlen, hat oft ein grosses Gewicht, wenn ein Geschäft in den Räten behandelt wird. Entsprechend bemühen sich die Parlamentarier auch, einen Sitz in einer der wichtigen Kommissionen zu ergattern.
Inzwischen ist alles anders. Geht es um Corona, sind die Kommissionen zu beratenden Stimmen verkommen. Das Covid19-Gesetz besagt, dass jede geplante neue Verordnung von der zuständigen Kommission beraten werden muss. Was dort beschlossen wird, ist nicht bindend, aber in einer Kommission, die Stunden in die Beratung investiert, herrscht doch die Erwartung, dass die Konsultation irgendeinen Effekt hat.
Die Gesundheitskommission des Nationalrats hat soeben eine andere Erfahrung gemacht. Sie hat sich dagegen ausgesprochen, dass Restaurants, Bars und Clubs sowie der Detailhandel um 19 Uhr schliessen müssen - und an Sonn- und Feiertagen ebenfalls zubleiben müssen. Stattdessen soll mindestens 22 Uhr als Sperrstunde gelten. Sekundiert wurde die Kommission von einer Vielzahl von Kantonen, die 19 Uhr als zu früh empfanden.
Das war am Donnerstag. Am Freitag verkündete der Bundesrat seine Entscheidung: Um 19 Uhr ist Schluss. Weder Gesundheitskommission noch die Bedenken der Kantone drangen durch.
Rein technisch ist alles sauber verlaufen. Eine Konsultation ist eine beratende Stimme, keine verpflichtende. Dasselbe gilt ja auch seit Monaten für die Corona-Taskforce des Bundes, die keinerlei konkreten Befugnisse hat, auch wenn sie sich mit ihrem alarmistischen Befehlston teilweise so gebärdete, als hätte sie diese. Mit anderen Worten: Der Bundesrat ist nicht verpflichtet, auf seine Kommissionen zu hören.
Aber es stellt sich die Frage, wozu dieses Instrument überhaupt geschaffen wurde, wenn die Empfehlungen der Kommissionen nur der Show dienen und keinerlei Einfluss haben. Man muss davon ausgehen, dass die Räte beim Beschluss des Covid19-Gesetzes davon ausgingen, eine Stimme zu haben - keine zwingende, aber eine, die beachtet wird und die einfliesst bei den konkrete Massnahmen. Das war rückblickend vielleicht naiv.
Inzwischen wird vielen Parlamentariern bewusst, dass sie in einem Puppentheater stecken, bei dem sie die Marionetten sind, die Schnüre aber von anderen geführt werden. Der St.Galler FDP-Nationalrat Marcel Dobler spricht davon, dass «der Sinn und Geist des Covid-Gesetzes verletzt» wurde. Man habe die reinen Konsultationen im Gesetz verankert, weil ein Milizparlament in dringenden Fällen nicht jedes Mal durch beide Kammern durchberaten könne, bis ein Entscheid vorliegt. Das dauert schlicht zu lange. Dass der Bundesrat das Gesetz aber nützt, um die Empfehlungen seiner Fachkommissionen einfach zu übergehen, ist für Dobler nicht die Idee der Sache.
Die Gesundheitskommission habe sich explizit gegen die Sperrstunde 19 Uhr und das Verbot von Sonntagsverkäufen ausgesprochen. «Dass der Bundesrat dies ignoriert, ist sehr gravierend, auch wenn er nicht direkt gegen ein Gesetz verstösst», so Dobler.
Sein St.Galler Ratskollege Mike Egger (SVP) stimmt dem zu. «Es darf nicht sein, dass sich der Bundesrat über Kommission, Parlament und Kantone hinwegsetzt.» Die 19-Uhr-Regel stelle die Gastronomie vor existenzelle Probleme, «welche ich am eigenen Familienbetrieb nun hautnah miterlebe.»
Egger räumt ein: «Die Mehrheit des Parlaments hat sich für das Gesetz entschieden.» Entsprechend könnte man nun sagen: Selbst schuld. Der SVP-Nationalrat sagt dazu aber, man habe das im Glauben gemacht, «dass sich der Bundesrat an gewisse Vorgehensweisen halten wird.» Wie sich nun zeige, habe der Bundesrat «damit eine Blanko-Vollmacht erhalten.» Auch seiner Partei sei die Gesundheit der Menschen wichtig, betont Egger. Doch auch vor diesem Hintergrund können die beschlossenen Massnahmen kontrovers betrachtet werden.
So auch bei der dritten Paralamentsstimme aus dem Kanton St.Gallen, SVP-Nationalrat Lukas Reimann. Er sagt: «Ich verstehe die Logik hiner dem Entscheid überhaupt nicht.» Durch die Sperrstunde um 19 Uhr und das Verbot der Sonntagsverkäufe «drängen sich umso mehr Leute an Werktagen in die Einkaufsläden und aus Nachtessen werden Mitagessen.» Die Folge sei, dass die Ansteckungsgefahr mittags und werktags umso grösser werde. Reimann weiter: «Entweder wir machen einen Hardcore-Lockdown und gleichzeitig die Grenzen coronadicht und haben es dann nach zehn Tagen überstanden so wie Neuseeland, Taiwan oder Korea mit Erfolg. Oder wir lassen es bleiben.» Die nun gewählte Lösung bezeichnet Reimann als «Trauerspiel sondergleichen.»
Man mag das alles sehen, wie man will. Aber das Vorgehen des Bundesrats zeigt: Überspitzt gesagt sind wir zurück im Notrecht, ohne dass dieses offiziell eingeführt worden wäre. Der Bund hat das Heft aus den Händen des Kantons wieder an sich gerissen, doch das Bundesparlament ist auf eine Beraterfunktion zurückgestutzt worden. Sprich: Der Bundesrat agiert faktisch wieder alleine. Er wird aber ohne Zweifel später gerne darauf hinweisen, dass das Covid19-Gesetz den Kommissionen ja eine Mitsprache garantiert habe. Dass es eine Mitsprache ist, die man auch einfach ohne Folgen überhören darf, das ist eine andere Sache.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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