Kennen Sie das elektronische Patientendossier der Schweiz? Nein? Sie bezahlen es trotzdem schon!
Dänemark hat eines, Estland hat eines, Österreich hat eines und das Fürstentum Liechtenstein hat wahrscheinlich eines noch vor der Schweiz: ein elektronisches Patientendossier, welches allen Versicherten einfach zugänglich ist und einen Nutzen bringt.
Die Schweiz hätte eigentlich gemäss eidgenössischem Gesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) seit April 2020 auch eines, aber es ist auch heute noch nicht in Betrieb. Bis zum Frühling 2020 war dies aber nur für Brancheninsider von Interesse. Mit Corona erhielt das Thema aber plötzlich unerwartet öffentliche Aufmerksamkeit, weil im Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Digitalisierung bekanntermassen nicht über den Einsatz des Fax hinausging.
Was ist also passiert?
Die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens hatte mit der im Jahr 2007 vom Bundesrat verabschiedeten Digitalisierungs-Strategie (Strategie eHealth Schweiz 2007), an welcher auch der Autor mitgearbeitet hat, einen guten Start. Wäre auch nur die Hälfte der ursprünglich 21 Ziele umgesetzt worden, würde die Schweiz wohl heute diesbezüglich international nicht zu den Schlusslichtern gehören.
Der Bundesrat und die Kantone bzw. die Gesundheitsdirektorenkonferenz setzte eine Koordinationsstelle namens eHealth Schweiz ein, welche sich um die Umsetzung der sogenannten eHealth-Strategie kümmern sollte.
Dies war der Startpunkt für den ersten Akt eines zum Teil kafkaesk anmutenden Lehrstücks über die Arbeit unserer kantonalen Gesundheits-Behörden und jener des Bundes, welche die Schweiz in die digitale Sackgasse unseres Gesundheitswesens führten.
Zuerst beauftragte man dieselbe Person mit der Leitung der Koordinationsstelle, welche 2004 für die Einführung der Versichertenkarte verantwortlich zeichnen sollte. Dass diese über einen Chip verfügt, welcher die Produktionskosten um das zehnfache verteuerte und nie richtig zum Einsatz gekommen ist, wird tunlichst verschwiegen.
eHealth Schweiz produzierte in Zusammenarbeit mit dem BAG ein von Juristen und Technokraten geprägtes Gesetz für ein elektronisches Patientendossier, ohne dass je eine Diskussion dazu über die Bedürfnisse der Bevölkerung oder der Gesundheitsdienstleister stattfand. Dazu kommt eine Verordnung, deren detailliertes Regelwerk selbst die Lebensmittelverordnung in den Schatten stellt.
Das Gesetz wurde bewusst so ausgestaltet, dass es zu keiner Diskussion innerhalb der Gesellschaft oder der betroffenen Akteure wie z. B. der Ärzteschaft führen sollte. Es wurde dann 2015 auch wie geplant mit einem an die Sowjetunion gemahnendem Resultat – im Ständerat mit keiner und im Nationalrat mit gerade mal fünf Gegenstimmen – verabschiedet. Das BAG gibt aktuell ironischerweise für die offensichtlichen Schwächen und Fehler in diesem Gesetz dem von ihm an der Nase herumgeführten Parlament die Schuld.
Ein zentraler Punkt des Gesetzes war es, die Finanzierung dieses Grossvorhabens zu verschleiern. Die im Endausbau jährlichen anfallenden Kosten im mindestens dreistelligen Millionenbereich sind gemäss Gesetz von den Gesundheitsinstitutionen, Spitälern, Heimen und Ärzten zu tragen, welche diese wiederum via Tarife und damit unsere Krankenkassenprämien refinanzieren müssen. Die Kosten für das notabene noch nicht funktionierende Patientendossier verstecken sich nun also intransparent und bequem im Promillebereich der Gesamtkosten des Gesundheitswesens.
Der grundsätzlich mögliche private Wettbewerb der besten Lösungen und Umsetzungen wurde zudem von Staates wegen abgewürgt und an staatliche bzw. parastaatliche, neu geschaffene Firmen und Institutionen übertragen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Bundesrat Ignazio Cassis verglich das Vorhaben für ein elektronisches Patientendossier einmal mit dem Bau der NEAT. Wäre man bei der NEAT gleich vorgegangen wie beim Patientendossier, hätten wir wohl noch keinen Zentimeter Loch im Gotthard, aber leere Kassen.
Fortsetzung folgt.
Jürg Lindenmann (*1965) ist Inhaber und Geschäftsführer der healtH-it GmbH. Er war von 2001 bis 2009 Leiter Informatik der kantonalen Spitäler St.Gallen und 2010 - 2011 CIO des Universitätsspitals Basel. Heute ist er als selbständiger Berater für Informatik im Gesundheitswesen tätig und Präsident des Schweizerischen Verbands Digitale Gesundheit SVDG.
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