Aufgrund unseres demokratischen Systems, in dem wir vier Mal im Jahr über Vorlagen abstimmen können, sowie des eifrigen Sammelns von Unterschriften für Initiativen und Referenden sind die Schweizer StimmbürgerInnen ein – nicht immer einig – Volk von ExpertInnen.
Zu jedem Thema wird landauf und landab engagiert, emotional, fundiert, unnötig, beeinflusst, zögerlich diskutiert. Beispiele dafür sind Materialentscheide über den Sitzbezug in Kampfjets, die Sorge um echte Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren oder lokale Lösungen für globale Pandemien.
Mir ist aufgefallen, wie steil die Lernkurve in Sachen Covid-19 bei gewissen Bevölkerungsteilen und Parteien gewesen sein muss, wenn man den Frühling mit dem Herbst vergleicht. So stellte man sich im März als ein einig Volk von Brüdern und Schwestern hinter die Massnahmen des Bundesrats. Rund neun Monate später haben die oben Genannten eigene Lösungsvarianten zur Bewältigung der Krise entwickelt – angefangen bei der Verharmlosung der Lage über lähmende Geldschwemmen bis hin zu kleinräumigen Konzepten, die gefühlt das Format von Quartieren in internationalen Grossstädten haben. Absurd, wenn Sie mich fragen. Wir versuchen einem Virus einigermassen Herr zu werden, das keine Grenzen kennt und sich sehr leicht verbreitet. Dagegen braucht es ein koordiniertes und abgestimmtes Vorgehen auf nationaler Ebene – eine Euphonie, und keine Kakofonie von 26 Musikanten.
Ähnlich verhält es sich mit den «never ending» Diskussionen um unsere Beziehung zur Europäischen Union. Der Autor ist zunehmend geneigt, diese als Hassliebe zu bezeichnen. Man ist umgeben von der EU, an allen Landesgrenzen nur EU. Aus guten Gründen sind wir nicht Mitglied bei der Nachbarin. Aber, es gibt schon ein paar Dinge, die für uns ganz praktisch sind – die Fachkräfte aus dem umliegenden Grenzland, ohne die gewisse Regionen nicht gleich funktionieren würden, ein vereinfachter Zugang zu einem Binnenmarkt mit rund 500 Millionen Teilnehmenden oder gemeinsame Forschungs- und Bildungsprogramme, um ein paar wichtige zu nennen. Im Gleichen tun wir uns wahnsinnig schwer damit, diese Beziehung in geordnetere und verlässliche Verhältnisse zu bringen. Behalten Sie das im Hinterkopf, wenn wir wieder über das institutionelle Rahmenabkommen diskutieren, von dem zwar jede/r weiss, warum es ganz sicher keine Mehrheit findet und gleichzeitig niemand wirklich aufzeigen kann, wie es denn funktionieren könnte.
Zum Schluss zum Ständerat: Dieser kämpft seit Jahr und Tag mit öffentlichen und transparenten Abstimmungen in den heiligen Hallen des einig Volks von Brüdern und Schwestern. Wenn man dem neuen Präsidenten des Ständerats, Alex Rupprecht, zuhört, droht dem Stöckli weiteres Ungemach. Die neu Gewählten – vor allem Schwestern aus dem einig Volk – hielten sich nicht an die ungeschriebenen Regeln. Man stelle sich das einmal vor. Nach den mühsamen Diskussionen um ein transparentes Abstimmungsverhalten bringen jüngere PolitikerInnen noch frischen Wind in die altehrwürdige Runde der Kantonsvertreter.
Politik wird auch 2021 spannend bleiben – manchmal nervig, dann wieder unterhaltsam, oft konstruktiv. Geniessen Sie die Feiertage und erholen Sie sich von der anstrengenden Demokratie.
Jérôme Müggler ist Direktor der Industrie- und Handelskammer Thurgau.
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