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Zeyer zur Zeit

Das Virus und die Zahlen-Leugner

Corona ist schlecht, Regierung ist gut, Bürger ist gehorsam. So fürchterlich vereinfacht hätte man’s gerne. Geht aber nicht.

«Die Ostschweiz» Archiv am 21. September 2020

In Zürich demonstrierten am Samstag offenbar rund 500 Menschen. Wofür oder wogegen? Schwer zu sagen. Irgendwie sollte es ein «historischer Tag des Widerstands» werden.

Aufatmend nahmen die meisten Medien zur Kenntnis, dass selbst der «Stargast des Tages» nicht gewaltige Massen mobilisieren konnte. Aber immerhin, Marco Rima habe mal wieder vor Publikum auftreten können.

Aber was für eins? Es seien schon «kritische Bürger» unter den Demonstranten gewesen, konzediert der «SonntagsBlick». Aber: «Ein Grossteil der Drahtzieher der Demo stammt aus der Szene der radikalen Verschwörungsideologen.»

Grossartig, wir begrüssen das Wort «Drahtzieher» im 21. Jahrhundert. Das starb eigentlich aus, als sich die Furcht legte, kommunistische Drahtzieher könnten harmlose Eidgenossen dafür missbrauchen, hierzulande eine Revolution anzuzetteln.

Und zum Wortpaar «Corona-Skteptiker» und verschärft «Corona-Leugner» gesellt sich noch der «Verschwörungstheoretiker», gesteigert zum «Verschwörungsideologen» und als Gipfel dann der «radikale» Ideologe.

Seismographisch genau zitterten eigentlich alle Medien jeden Irren aus dem Umfeld von QAnon und andere Vollpfosten mit. Eine Rednerin sei gar «Reichsbürger-Sympathisantin» und habe «Kontakte» zu einem deutschen «Holocaust-Leugner». Unerhört, aber was hat diese Rednerin eigentlich gesagt? Würde mich noch interessieren, da ich nicht dabei war.

Da schweigt aber die Berichterstatterpflicht. Ist ein Holocaust-Leugner unbedingt und unter jedem Titel und absolut ein widerwärtiger, verachtenswerter Kleinkrimineller mit Kleinhirn? Unbedingt. Ist das jeder «Corona-Skeptiker» oder gar «Leugner» auch? Wenn es tatsächlich Menschen geben sollte, die die Existenz eines Corona-Virus leugnen, müssten die sich auch mal untersuchen lassen.

Wie steht es aber mit Staatsbürgern, die berechtigte Zweifel an der Weisheit der Beschlüsse und des Handelns unserer Regierung äussern? Auch alles Irre? Vielleicht bin ich da Partei, aber ich gestehe: Ich bin ein notorischer Kritiker der Beschlüsse unserer Regierung; ich halte den Lockdown und viele weitere Massnahmen für verantwortungslos; ich halte dafür, dass damit der Schweiz der grösste Schaden seit dem Zweiten Weltkrieg zugefügt wurde; von ihrer eigenen Regierung.

Ich bin auch der Meinung, dass man sich nach inzwischen acht Monaten COVID-19 fragen muss, ob die Richtschnur, nach der die Gefährlichkeit der Pandemie gemessen wird, aus Unfähigkeit oder mit Absicht beibehalten wird.

Diese Richtschnur ist die Zahl der Neuinfektionen. Lange Zeit wurde die tatsächlich im Tagesrhythmus angegeben; inzwischen wenigstens gemittelt auf sieben Tage. So oder so: Sie ist völlig insignifikant.

Es ist eigentlich die absurdeste und unwichtigste Zahl, die man im Zusammenhang mit einer Pandemie überhaupt nennen kann. Sie wird, wenn sich das überhaupt noch steigern lässt, noch aussageloser, wenn sie absolut und nicht in Relation zur Bevölkerung angegeben wird.

Dass Indien mit über einer Milliarde Einwohnern zweifellos immer höhere Infektionszahlen als die kleine Schweiz hat: trivial. Dass die Anzahl der Infizierten mit der Zahl der Getesteten steigt: trivial. Dass ein Neuinfizierter überhaupt nicht bedeutet, dass es einen neuen Krankheitsfall gibt: trivial. Die gesamte Zahl der Neuinfizierten, ohne Differenzierung zwischen Altersklassen oder wenigstens mit Vorerkrankung oder ohne, ist unsinnig: trivial.

Die Zahl ist so unsinnig, wie wenn man einen Autounfall so beschreiben würde, dass man einzig die Höhe des Reifenprofils angibt. Könnte vielleicht etwas mit dem Unfall zu tun haben, ist aber meist unerheblich.

Was wäre denn dann eine signifikante Zahl? Ganz einfach: Die Zahl der Neuerkrankten, die ins Spital mussten. Oder die Zahl der COVID-19-Erkrankten auf Intensivstationen. Oder die Zahl der diagnostizierten Corona-Toten. Mit oder ohne Vorerkrankung, mit oder ohne Differenzierung nach Altersklasse.

Eine signifikante Zahl wäre auch die Zahl der durchschnittlich pro Woche Verstorbenen in der Schweiz; im Vergleich mit vergangenen Jahren. Warum verwendet man nicht diese Zahlen?

Nun, Todesfälle unter 65 mit Corona gibt es schon länger nicht mehr. Ü-65 ist weniger als ein Todesfall pro Tag zu beklagen.

Aber ohne Lockdown, ohne die weisen Entscheidungen der Regierung wäre es alles viel schlimmer? Man weiss es nicht. Aber wenn unsere Regierung ihre Entscheidungen wirklich auf diese Zahl der Neuinfektionen und ihre Entwicklung abstellt, dann ist es weiterhin ein Blindflug ohne Kompass.

Aber man bemüht sich doch? Ach ja? Was wäre zurzeit das Wichtigste? Genau, Schnelltests, Tracing von einreisenden und einheimischen Infizierten und Schutzmassnahmen für die Hochrisikogruppe Alte mit Vorerkrankung. Und wo hapert es am meisten im Moment? Richtig geraten, an Schnelltests, an Tracing und an Schutzkonzepten.

Und ich versichere eidesstattlich, dass ich weder Verschwörungstheoretiker noch -ideologe bin, auch mit Reichbürgern, Holocaust-Leugnern und anderen Irren nichts, aber auch gar nichts zu tun habe. Ich bin auch kein Corona-Leugner und erst recht nicht ein -Skeptiker. Ich kann bloss lesen, denken und schreiben. Wenn mich schon das verdächtig macht...

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«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.

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