Das Hin und Her war schon im vollen Gang, bis dann am 1. Dezember auch der offene Brief mit der Forderung, die Mumie Ägypten zurückzugeben, verschickt wurde. Das hätte auch früher geschehen können, ganz ohne Inszenierung und das ganze Empörungsgeschrei im Vorfeld.
Was bisher geschah:
Am 17. November lancierten der Regisseur Milo Rau, die Ägyptologin Monica Hanna, der Theologe Rolf Bossart und die Filmemacherin Rabelle Erian gemeinsam mit 100 Erstunterzeichnenden die «St.Galler Erklärung für Schepenese». Sie zogen in einem Umzug einen Leiterwagen mit einer verhüllten, liegenden Gestalt durch die St.Galler Altstadtgassen. Ihre Forderung: Die Mumie soll von der Stiftsbibliothek zurück nach Ägypten gebracht und dort in Würde verwahrt werden.
Am 29. November reichte der SP-Stadtparlamentarier Peter Olibet eine schriftliche Interpellation ein, mit der er vom Stadtrat verlangt, zu den Forderungen der «St.Galler Erklärung für Schepenese» Stellung zu nehmen. Olibet befürchtet ein Reputationsschaden für St.Gallen, wenn die Mumie nicht an Ägypten rückgeführt werde. Die Menschen hinter der St.Galler Erklärung für Schepenese stört auch, dass die Mumie der vor bald 3000 Jahren gestorbenen Frau bis zum Brustbereich entblösst sei und für Geld ausgestellt werde, das verstört auch den Interpellanten, wie er gegenüber der «Ostschweiz» sagte.
Am 1. Dezember wehrt sich der Katholische Konfessionsteil des Kantons St.Gallen und die Stiftsbibliothek: Sie werfen den Initianten Unsachlichkeit und Gesprächsverweigerung vor. Der Vorwurf der Nicht-Kontextualisierung des Exponats sei genauso falsch, wie der Vorwurf, bei der Stiftsbibliothek handle es sich um kein Museum. Ausserdem: Weder von den Initianten noch seitens des ägyptischen Staates sei jemals irgendein diesbezügliches Anliegen herangetragen worden.
Das änderte sich kaum eine Stunde nach dem Versand der entsprechenden Mitteilung aus dem Stiftsbezirk: Am 1. Dezember traf (endlich) ein von 200 Menschen unterzeichneter Offener Brief mit klaren Forderungen ein. Im Wortlaut heisst es:
• Wir fordern die Stiftsbibliothek auf, mit einer ägyptischen Arbeitsgruppe, bestehend aus Ägyptologinnen, Wissenschaftlern und Kulturaktivistinnen, zusammenzuarbeiten, um Shepen-Isis wieder nach Hause zu bringen und ihr den Frieden und den Respekt zu geben, den sie sich gewünscht hat.
• Wir schlagen vor, das Archiv der Abteibibliothek zu öffnen, um alle rechtsverbindlichen Verträge aus dem Jahr 1820 offenzulegen, die den Erwerb von Shepen-Isis belegen, sowie alle Briefe und Dokumente, die bei der Rückverfolgung ihrer genauen Herkunft helfen könnten.
• Wir sind dabei, die notwendigen Unterlagen für das ägyptische Aussenministerium vorzubereiten, um den offiziellen Antrag auf Restitution zu stellen.
Roger Fuchs, Kommunikationsverantwortlicher des Katholischen Konfessionsteils, bestätigt den Eingang des offenen Briefs und sagt, dass die Verantwortlichen die Forderungen besprechen und das weitere Vorgehen bestimmen werden. Er unterstreicht die Gesprächsbereitschaft mit den Briefeschreibenden zu gegebener Zeit in einen Dialog zu treten.
Die Forderung haben durchaus ihre Berechtigung, aber...
Aus den Forderungen der St.Galler Erklärung lesen sich allerdings auch Probleme heraus: Punkt eins: Milo Rau und seine Entourage können kaum wissen, wie sich Schepenese (oder: Shepen-Isis) sich «Frieden und Respekt» vorgestellt hat und ob es ihr tatsächlich unangenehm ist, 3000 Jahre nach ihrem (körperlichen) Tod in der Stiftsbibliothek ausgestellt zu werden. So wie Menschen heutzutage ihren Körper nach dem Ableben der Wissenschaft zur Verfügung stellen, könnte es auch der Schepenese egal (gewesen) sein, was mit ihrer sterblichen Hülle passiert. Hier spricht wohl eher das eigene Unwohlsein und Unbehagen aus der Forderung. Und obschon sich Peter Olibat nicht zum Woke-Vorwurf äussern möchte, ist diese Forderung ganz klar unter diesem Aspekt zu betrachten. Das ist nicht wertend gemeint. Wokeness kann nerven, Wokeness ist aber oft auch angebracht. Aus dem dritten Punkt der Forderung lässt sich zudem schliessen, dass die Forderung der Rückführung tatsächlich auf das Unbehagen der Briefunterzeichnenden zurückzuführen ist. Man nötigt ja das ägyptische Aussenministerium beinahe dazu, die Mumie der Schepenese zurückzuwollen.
Gegen die Forderung, das Archiv zu öffnen und die Verträge offenzulegen, ist gar nichts einzuwenden. Selbst wenn damals etwas krumm gelaufen ist, müssen sich die heutigen Verantwortlichen dafür nicht schämen, sondern die Verantwortung übernehmen.
Ob es dafür dieses inszenierte Tamtam und mediale Hickhack gebraucht hätte, ist eine andere Frage. Von gutem Stil zeugt das auf jeden Fall nicht.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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