Einer stets lauter brüllenden Hetz-Meute in den sozialen Netzwerken hat sich in den USA erstmals eine geballte Gegenmacht aus über 150 prominenten Autoren, Philosophen, Professoren und Künstlern entgegengestellt.
In einem offenen Brief beklagen Schriftstellerinnen wie Margaret Atwood oder J.K. Rowling und Autoren wie Daniel Kehlmann und Salman Rushdie, die Philosophen Noam Chomski und Francis Fukuyama oder der Jazztrompeter Winton Marsalis die zunehmende Intoleranz und eine Tendenz zur Zensur unliebsamer Meinungen in der öffentlichen Debatte im Namen einer zunehmend aufgeladenen politischen Moral.
Einerseits, so schreiben die Verfasser des Offenen Briefes in der Zeitschrift «Harpers Magazine», die dem liberalen Lager zuzuordnen sind, teilten sie zwar die aktuellen Forderungen nach weniger Rassismus und mehr sozialer Gerechtigkeit. Diese Forderungen seien überfällig. Gleichzeitig habe diese notwendige Abrechnung aber bedenkliche moralische und politische Bekenntnisse und Verhaltensweisen hervorgerufen. Diese gefährdeten zunehmend die Normen der offenen Debatte und der Toleranz für Unterschiede zugunsten einer «ideologischen Einheitlichkeit». Der freie Austausch von Informationen und Ideen – «das Herzblut einer liberalen Gesellschaft» - werde immer enger und schwieriger, wie zahlreiche Beispiele zeigten, die in der Folge aufgeführt werden (Harpers Magazine, A Letter on Justice and Open Debate).
Europäische Redaktionen reagieren unterschiedlich auf diesen Aufruf, dem in den sogenannten sozialen Medien sogleich die erwartete Protestwelle entgegenschlägt. Dessen Behandlung ist ein Gradmesser für den Grad politischer Korrektheit und politisch-moralischen Aktivismus’ – wenn die öffentliche Debatte denn überhaupt wahrgenommen wird. Derweil grosse Zeitungen und Magazine über ihre Berichte meist sachliche Nachrichtentitel setzen, gibt das «Thuner Tagblatt» (ein Kopfblatt der Berner Zeitung) gleich im Titel bekannt, was von diesem Aufruf zu halten ist: «Ein Briefchen für Gerechtigkeit». Zur Ehrenrettung des Weltblättchens vom Thunersee kann immerhin angeführt werden, dass es den Bericht aus dem Einheitsbrei der Medien aus dem Hause Tages-Anzeiger herausgefischt hat. Diese wiederum haben es von ihrem deutschen Partner «Süddeutsche Zeitung», die allerdings einen neutraleren Titel setzen. So ist die europäische Medienvielfalt gerettet.
Die offensichtliche Geringschätzung US-amerikanischer Intellektueller auf einer helvetischen Kleinredaktion hat zwar etwas Lächerliches – aber sie zeigt uns immerhin, welchem (Zeit-)Geist wir das Bild der Welt verdanken, das uns Tag für Tag vorgesetzt wird.
Dr. Salzgeber benötigt sein Pseudonym, um kritisch und ungeschminkt für «Die Ostschweiz» schreiben zu können. Der prominente Kenner der Zürcher Medienszene beobachtet regelmässig auch die Ostschweizer Medienlandschaft.
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