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Gastbeitrag

Den Frieden stören

Begegnungen im Jahr 2021 unterscheiden sich von früher. Was tun, wenn das Gegenüber beim Thema Nummer Eins eine andere Sicht der Dinge hat? Es gar nicht  erst ansprechen, um den Frieden zu wahren? Oder doch die Diskussion suchen? Ein Gastbeitrag von Nicolas Lindt.

Nicolas Lindt am 24. März 2021

Wie soll man jemandem begegnen, der zum Thema Corona eine ganz andere Einstellung hat? Was soll man sagen? Ich habe mir diese Frage einmal mehr stellen müssen am vergangenen Sonntag, als ich draussen in der freien Natur, oberhalb unseres Dorfes, Bruno antraf.

Er war unterwegs wie ich, zusammen mit seiner Frau Anna. Wir kennen uns von der gemeinsamen Fussballzeit, das verbindet uns und wir wechseln jedes Mal ein paar Worte, wenn wir uns sehen.

So war es auch diesmal. Wir kamen allerdings bald auf Corona zu reden. Es ist schwierig, nicht darüber zu reden. Man muss da schon sehr verdrängen oder so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Denn es plagt uns. Wir leiden darunter, und auch Bruno und Anna gaben mir recht: Es ist nicht leicht. Das ist der gemeinsame Nenner, der wohl die meisten Menschen verbindet, bei allen unterschiedlichen Auffassungen: Es ist nicht leicht.

Dann aber sagte Bruno: Ich habe diese Bilder gesehen in der Tagesschau von der Kundgebung in Liestal am Vortag. Das hat mich schon sehr geärgert, alle diese Kundgebungsteilnehmer ohne Masken und ohne Abstand. Wie soll die Pandemie jemals enden, wenn die Leute sich nicht an die Massnahmen halten?

Das sagte Bruno, und ich schluckte innerlich einen Augenblick leer, denn ich wusste, jetzt kommt es darauf an, was ich antworte.

Wenn ich eine ehrliche Antwort gebe – ging es mir durch den Kopf -, vergeht uns die gute Laune vielleicht. Dann ist die schöne Natur, in der wir uns gerade befinden, auf einmal wertlos und wir geraten in eine gehässige Diskussion. Das will man ja nicht. Das möchte auch ich nicht. Das wollen Anna und Bruno nicht.

Also soll ich es vorziehen, auszuweichen und von etwas anderem reden? Das geht ebensowenig. Man möchte ehrlich sein. Man möchte eine solche Begegnung nicht mit einem schlechten Gefühl hinter sich lassen. Deshalb sagte ich gerade heraus: Auch ich wäream Samstag beinahe nach Liestal gereist.

Das befremdete Bruno im ersten Moment, und auch Anna schaute mich erstaunt an. Wir hatten uns schon länger nicht mehr gesehen, und sie wussten offenbar nicht, wie ich über Corona denke. Bruno sah mich noch immer als sein ehemaliger Fussballkollege und als Geschichtenerzähler.

Dass er eine andere Einstellung hat, ahnte ich schon bei der Begrüssung. Anstatt meine ausgestreckte Hand zu erwidern, streckte er mir den Ellbogen hin. Das mag ich eigentlich gar nicht, wenn mir jemand diesen blöden Ellbogen vors Gesicht hält und damit signalisiert: Ich möchte keinen Körperkontakt mit dir. Du könntest mich infizieren!

So etwas meinte Bruno natürlich nicht. Ich mag ihn wirklich gut. Aber sein Ellbogen hat mich gestört und deshalb wusste ich schon, was er denkt. Trotzdem wollte ich ihm ehrlich antworten. Ich erklärte ihm dann, warum ich die Corona-Massnahmen ablehne, warum ich überhaupt diese ganze Corona Politik verurteile, weil ich jeden Tag aufs neue mitansehen muss, wie die Menschen auch in der Schweiz darunter leiden.

Bruno hörte mir zu. Man spürt, er nimmt sein Gegenüber ernst. Und je länger wir redeten, desto ungefährlicher wurde es zwischen uns. Denn auch Bruno sagte zum Beispiel: Man möchte doch wieder mal etwas trinken gehen mit den Kollegen. Oder er sagte, man möchte doch wieder mal an ein Fussballspiel gehen, anstatt nur diese Geisterspiele am Fernsehen ansehen zu müssen. Oder er gab freimütig zu, dass er in seiner engsten Umgebung keine schwerkranken Corona-Patienten erlebte. Er gab zu, dass er im Dorf von niemandem hörte, der am Virus gestorben wäre.

So redete Bruno und da spürten wir beide: Wir liegen gar nicht so weit auseinander, wie wir im ersten Augenblick wohl gedacht haben. Und Anna? Sie hörte uns mehrheitlich zu, denn Bruno und ich kennen uns besser. Aber sie lächelte, wenn ich argumentierte, und ich glaube, sie war erleichtert zu hören, dass ich ähnlich denke, wie sie selber offenbar denkt. Ich vermutete, dass sie vielleicht mit Bruno schon einige Male gestritten hat, wenn es um das Thema Corona ging. Nun fühlte sie sich durch mich bestätigt.

Und so hat diese Begegnung eigentlich sehr friedlich geendet, obwohl ich am Anfang befürchtete, den Frieden zu stören und damit rechnen musste, die gute Laune zwischen uns zu verderben mit meiner Antwort. Aber nein, es war im Gegenteil genau richtig, dass ich eine ehrliche Antwort gab. Auf diese Weise kam es zu einem echten Gespräch zwischen uns, und wir verabschiedeten uns im Frieden - in einem echten Frieden.

Ich habe das schon viele Male erlebt mit anderen Menschen, mit Bekannten, die ich zufällig antraf, mit Verkäuferinnen, die an der Kasse einen Augenblick Zeit hatten, mit dem Elektriker, der bei uns im Haus etwas reparierte. Zuerst habe ich oft den Eindruck, dass der Mitmensch, mit dem ich über Corona rede, in einer anderen Realität lebt als ich. Aus jedem seiner Sätze sprechen die Mainstream-Medien. Aber wenn wir dann weiterreden, kann ein Gespräch eine unerwartete Wendung nehmen. Auf einmal ist nur noch wichtig, was wir im Zusammenhang mit Corona persönlich erleben, wie wir uns fühlen. Die dünne, kleistrige Schicht des Mainstreams bricht ein und wir begegnen uns – wie es eigentlich sein sollte - von Mensch zu Mensch.

Also lohnt es sich, den Frieden, der eigentlich gar keiner ist, diesen Frieden zu stören. Um des Friedens willen. Also lohnt es sich, mutig zu sein und ohne zu zögern die eigene Meinung zu äussern. Auch wenn man vielleicht damit aneckt und die gegenseitige Sympathie gefährdet. Aber am Ende bringt es etwas. Man fühlt sich persönlich besser, und man ist dem anderen Menschen näher gekommen. So wie ich am Sonntagmorgen auf der Farner Alp, an der Grenze zur Ostschweiz, Bruno und Anna näher gekommen bin.

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Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.

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