Weshalb man sich jetzt ab und zu eine Portion Malerei, Dichtung und Musik gönnen sollte.
Kein Drehbuchautor im Genre Katastrophenfilme hätte je treffend zusammenfantasieren können wie es ist, wenn die Welt auf unbestimmte Zeit im Krisenmodus funktionieren muss. Die meisten Strukturen und Gewohnheiten, die normalerweise den Alltag ausmachen sind ausser Kraft gesetzt. Jeder banale Türgriff wird zum möglichen Übertragungsort für eine Pandemie und könnte Senioren in Lebensgefahr bringen.
Die Menschen müssen jetzt handfeste Herausforderungen wie Versorgung mit Nahrungsmitteln sowie finanzielle Überbrückungslösungen stemmen. In einer freiheitlichen Gesellschaft werden die eigenen Wohnräume je nach dem zum Zufluchtsort oder zum Gefängnis – bis anhin kaum vorstellbar.
Und in so einer Situation soll man Gedichte lesen, Kunstbildbände anschauen und Harfenkonzerte hören? Ja, unbedingt. Der Mensch ist ein seltsames Geschöpf, wenn die Angst vor einer Seuche umgeht, kauft er einen Vorrat an WC-Rollen für zehn Jahre. Tage später überschlagen sich im Internet die humoristischen Darstellungen zu diesem absonderlichen Durchbruch des Jäger-und -Sammler-Triebs. Was tun Menschen, wenn es schwierig wird? Genau dieses Thema inspiriert seit der Antike die schöpferischen Köpfe? Verzweifeln sie? Packt sie der Wahnsinn? Werden sie zu triebbeherrschten Neandertalern? Oder werden sie solidarisch? Entwickeln sie neue Werte?
Der Bildhauer Alberto Giacometti hat den Menschen als dünne aufgeschossene Figuren mit diffusen Konturen dargestellt. Sie gehören heute zum kollektiven kulturellen Schatz, weil sich offenbar viele Menschen in dieser Art der Darstellung wiederspiegelt sehen. Gleiches wäre wohl vom berühmten «Schrei» von Edvard Munch zu sagen. Wurden Angst und Panik je eindringlicher dargestellt?
Dasselbe gilt auch für erbauliche Themen: Die Werke der französischen Impressionisten sind eine Huldigung an die Lust am Leben und am Geniessen. Beethovens «Ode an die Freude» kann einem nach einem Dutzend Mal anhören noch die Tränen in die Augen treiben. Das ist Kunst: Sie verdichtet urmenschliche Themen auf das Wesentliche; gleichzeitig eröffnet sie neue Perspektiven darauf, dass das menschliche Leben viel mehr ausmacht, als genügend Vorräte für schwierige Phasen zu horten. Wer sich jetzt ab und zu einen Rausch an Farben, Versen und Melodien gönnt, wird hoffnungsvoll daran erinnert.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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