Kein anderer Medientitel hat die letzten Jahrzehnte in der Schweiz so geprägt wie der «Blick». Das 60-Jahr-Jubiläum begeht die Zeitung lautstark. Im Alltag löst sie aber längst nicht mehr so viel aus wie früher. Teils, weil sich die Zeiten geändert haben - und teils wohl ganz bewusst.
Heute gibt es den Blick am Kiosk für 20 Rappen, zu dem Preis, den man am 14. Oktober 1959 für die allererste Nummer ebenfalls berappen musste - was damals natürlich etwas mehr Geld war als heute. Es ist eine kleine, sicher nicht ganz billige Spielerei, die der Verlag Ringier hier durchführt. Wobei für viele der Blick ohnehin die Zeitung ist, zu der sie zum Nulltarif zum Znüni im Café greifen. Die Papierausgabe hat wie so viele andere Printtitel in den vergangenen Jahren an Auflage verloren, die Investitionen fliessen vermehrt in den Onlineauftritt und neue Projekte wie Blick TV. Damit steht Ringier nicht allein da, es ist der Zeitgeist. Und ob die gedruckte Ausgabe auch ihren hundertsten Geburtstag erleben wird, ist mehr als zweifelhaft. Vermutlich wird schon das Jubiläumsjahr Nummer 70 unter ganz anderen Zeichen stehen.
In seinen 60 Jahren hat sich der Blick mehrfach verwandelt - und nicht selten auch wieder zurückgewandelt. Wer erinnert sich noch an den Versuch mit dem «Blick für die Frau»? Das Wochenblatt hielt sich von 1985 bis 1990, danach merkte man wohl, dass Frauen keine Wesen von einem anderen Stern sind und durchaus mit dem «normalen» Blick umgehen können, auch wenn dieser mehrheitlich vermutlich eher ein Männerspielzeug ist. Mehr als zehn Jahre lang gab es den gedruckten «Blick am Abend», danach wurde er eingestampft. Die Marke lebt online weiter, gibt aber nicht viel zu reden. Und dann ist da natürlich blick.ch, das sich mit 20minuten.ch einen Wettstreit darum liefert, wer die meistgelesene Onlinezeitung ist.
Das aber sind nur Formate. Sie sagen wenig aus über den Inhalt. Auch der hat sich gewandelt. Vor 60 Jahren war der Blick mit seinem Blut-und-Tränen-Journalismus ein regelrechter Kulturschock für unser Land. Dies, während man beispielsweise in Grossbritannien nur müde lächelte, wenn die Schweizer fanden, das sei Sensationsjournalismus. Selbst in seinen wildesten Zeiten war der Blick nie eines der Skandalblätter, die sich im Ausland schon viel früher fanden. Aber er war härter, er war emotionaler und oft schneller als die anderen Zeitungen im Land, er thematisierte Politik erst dann, wenn es um Menschliches und Allzumenschliches ging, und Wirtschaft war nur dann ein Thema, wenn Ereignisse zu Schicksalen führten.
Und das bei einer Zeitung, die einem veritablen Schöngeist wie Michael Ringier gehört. Eigentlich wenig verwunderlich, dass später schleichend ein sanfterer Kurs eingeschlagen wurde. Die Kultur fand ihren Platz, die Politik wurde plötzlich anhand von realpolitischen Vorgängen abgebildet. Das dezentrale System der regionalen Reporter wurde ausgedünnt, und damit gab es auch weniger Geschichten aus der Peripherie.
Vor allem aber: Andere taten plötzlich dasselbe. Für altgediente Blickreporter war es ein Schock, als vor 25 Jahren Tele Züri den Betrieb aufnahm und dessen Videojournalisten auch am Tatort auftauchten. Oder wenn sie schneller bei Augenzeugen waren. Es war eine bislang nicht gekannte Konkurrenz, die sich seither noch akzentuiert hat. Zum einen durch die kostenlose Konkurrenz, zum anderen dadurch, dass die bis dahin staubtrocken berichtenden Regionalblätter auch Raum schufen für den typischen Blick-Stoff: Menschliche Abgründe, Absurditäten des Alltags und so weiter.
Der wohl legendärste Blick-Chefredaktor Peter Uebersax prägte die Zeitung bei seinem zweiten Anlauf auf diesem Posten in den 80er-Kahren besonders stark. Er setzte vermehrt auf nackte Tatsachen statt auf Blut, und er bezog politisch Position. Dies aus der Überlegung, dass seine Zeitung die des kleinen Mannes und seiner Nöte ist, und das wollte Uebersax bedienen. Zudem war er der König der Kampagnen. Wenn er aus Sicht seiner Leser etwas für falsch befand, schrieb er das nicht nur, sondern peitschte das Thema solange durch die Kioske, bis sich in vielen Fällen die Politik überlegen musste, was sie tun soll. Höhere Benzinpreise oder tiefere Tempolimiten auf Autobahnen sind Beispiele dafür, wie sich der Blick zum Anwalt der Betroffenen machte, statt neutral zu berichten. Es war ein klarer Kurs, und er machte die Zeitung zum aktiven Mitspieler.
Das würde heute vermutlich nicht mehr gleich funktionieren. Ein einzelner Tweet des richtigen Absenders kann sich unter Umständen zu einer grösseren Lawine entwickeln als eine Zeitungskampagne. Aber sicher ist: Man wusste damals zweifelsfrei, wofür der Blick steht, man liebte und man hasste ihn. Das ist das beste, was einen Medium passieren kann. Nichts ist schlimmer als die Beliebigkeit, die Austauschbarkeit.
60 Jahre Blick sind 60 Jahre, in denen das Profil immer mal wieder verändert wurde. Die Kunst wird es sein, auch in Zukunft eines zu haben. Boulevard ist für viele ein Schimpfwort, dabei umschreibt es nur eine Form des Journalismus, die ihre Daseinsberechtigung durchaus hat. Und genau wie bei allen anderen Medien gilt: Es gibt guten und schlechten Boulevard. Und dem Blick würde man wünschen, dass er sich hie und da an seine Anfänge zurückerinnert. Denn damals regte sich die offizielle Schweiz noch über ihn auf. Und das ist ein gutes Zeichen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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