Eine Studie aus Deutschland zeigt auf: Die Schulkinder haben im Distanzunterricht so gut wie keinen Lerneffekt erzielt und sogar an Kompetenz verloren. Sie hätten genau so gut Ferien machen können. Die Untersuchung war international angelegt. Die Ergebnisse dürften auch für die Schweiz zutreffen.
Die Chance in der Krise sehen: Das war mit Bezug auf den Distanzunterricht oft das Motto. Endlich könne man neue Lernformen ausprobieren, die Digitalisierung im Bildungswesen vorantreiben. Klingt gut. Und vielleicht gibt es ja eines Tages wirklich vielversprechende Mischformen, die zu positiven Resultaten führen.
Im Jahr 2020 war das allerdings eindeutig nicht der Fall. Das zeigt eine Studie der Pädagogischen Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Auch wenn sich Lehrkräfte ins Zeig legten, virtuelle Austauschplattformen die realen Kontakte ersetzen sollten und Eltern mitmachten, so gut es ging: Es resultierten aus dieser Zeit Leistungsdefizite. Die Schülerinnen und Schüler erwarben auf Distanz weit weniger Kompetenzen als im Präsenzunterricht.
Beziehungsweise: Es ist noch ein bisschen drastischer. Man bilanziere eine «Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbusse.» Der Effekt sei vergleichbar mit dem von Sommerferien, so die Autoren der Studie. Im langen Schulunterbruch vergessen Kinder zwar nicht gerade alles Erlernte, aber sie werden in gewissen Bereichen in der wochenlangen Pause durchaus einige Meter zurückgeworfen. Was nun eben auch durch den fehlenden Präsenzunterricht der Fall war.
Es sind ziemlich ernüchternde Resultate. Aber sie scheinen fundiert. Grundlage war ein systematischer Review, bei dem wissenschaftliche Datenbanken angezapft wurden. Und zwar diejenigen, in denen die Auswirkungen der Schulschliessungen auf die schulische Leistung erhoben wurden. Man habe bewusst nur die Publikationen berücksichtigt, die eindeutige Rückschlüsse auf die Wirkung des Distanzunterrichts zuliessen, heisst es dazu. Die Studie spricht in der Zusammenfassung der Erkenntnisse von «enormen Leistungsdefiziten».
Die negativen Auswirkungen zeigten sich vor allem bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Elternhäusern. Das ist bitter – aber nicht besonders überraschend. Denn auch wenn es sicher nicht am guten Willen der Lehrkräfte fehlte, fand doch eine Verlagerung der Verantwortung nach Hause statt. Dass dort, wo beispielsweise beide Elternteile voll arbeitstätig oder die familiären Strukturen beeinträchtigt sind, der Distanzunterricht nicht wirkt, wie er sollte, vermag nicht zu verwundern. Die Autoren sprechen von der «Schere zwischen Arm und Reich», die sich während der Schulschliessungen weiter geöffnet habe.
Dort, wo die Schulen auch später im Jahr 2020 wieder geschlossen waren, scheint sich die Lage auf diesen Zeitpunkt hin etwas verbessert zu haben. Das digitale Lernen sei aus den Erfahrungen der ersten Runde heraus optimiert worden, man habe die negativen Effekte «abfedern» können. Was auch noch nicht danach klingt, als wäre das Lernen aus Distanz der Knüller für die Zukunft.
Auch wenn es vermessen gewesen wäre, keinerlei negative Auswirkungen von den Schulschliessungen praktisch über Nacht zu erwarten: Das Ausmass der Entzauberung des Distanzunterrichts überrascht in seiner Deutlichkeit. Das Jahr 2020 hat nicht nur die Wirtschaft beschädigt, sondern auch den Bildungsstand der Kinder und Jugendlichen. Ob der Rückstand aufgeholt werden kann, ist eine andere Frage. Gerade die besonders Betroffenen aus eher bildungsfernen Schichten sind mit dem Normalprogramm bereits gefordert – oder überfordert.
Dass es sich um eine Studie aus Deutschland handelt, kann ebenfalls nicht zur Beruhigung dienen. Denn zum einen war es eine globale Untersuchung. Und gegenüber dem Portal nau.ch liess Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz, verlauten, der hiesige «Schulbarometer» habe «teilweise ähnliche Ergebnisse dokumentiert.»
Man würde sich im Nachhinein fast wünschen, die Kinder hätten im Frühling 2020 schlicht und einfach Ferien bekommen. Gelernt hätten sie offenbar dadurch nicht weniger als im Distanzunterricht. Aber es wäre ihnen als positiver Nebeneffekt dieser verrückten Zeit in Erinnerung geblieben.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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