Das Leben an der Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen mitten im Ausnahmezustand, eingefangen in Momentaufnahmen, Gedanken und Bildern. Menschliche und tierische Schicksale am Grenzzaun.
Die Situation
Zügig nach dem Einreiseverbot in die Schweiz wurde zwischen Kreuzlingen und Konstanz an allen Stellen der bisherigen «grünen Grenze» ein provisorischer Zaun errichtet und bewacht.
Sofort und bei jedem Wetter wurde er zum Treffpunkt für alle, die nicht mehr hin oder her durften. Man hielt Händchen, küsste sich, machte Picknick und kam sich dauerhaft so nahe, dass ein böses deutsches Virus ohne Probleme die Grenze hätte überhopsen können.
Letzte Woche folgte deshalb dann der professionelle Zaun mit drei Metern Zwischenraum und Militärbewachung. Erinnerungen an die Mauer der DDR werden wach, nur dass es hier keinen Todesstreifen gibt.
Die Stimmung
Am Sonntagnachmittag waren auf der kurzen Strecke hinter der Eishalle in Kreuzlingen etwa 120 Menschen auf Schweizer Seite und 40 auf der deutschen. Man sass sich gegenüber, redete gedämpft oder man hielt sich lässig am Zaun fest und rauchte auf Distanz gemeinsam eine Zigarette. Es war wie in einer Leichenhalle, nachdem der Sarg weggebracht war.
Man versuchte das normale Leben über den Zaun: zwei Mädchen spielten Federball und hatten lange Äste dabei, um die Bälle zurückzuholen, die in der toten Zone zwischen ihnen liegen blieben. Ein spanisches Gitarrenduo trainierte komplizierte Akkorde und sang zweistimmig dazu. Einige telefonierten miteinander. Alles in Beobachtung von zwei Soldaten und zwei privaten Überwachern. Nach deren Auskunft gab es keinen ernsthaften Versuch, den Zaun zu überwinden.
Die Story
Pech für ein Ehepaar: Er, Schweizer, blieb auf der deutschen Seite hängen, sie, Deutsche, auf der Schweizer Seite. Also treffen sie sich jeden Tag, bedauern, dass die Zäune jetzt so weit auseinander sind, aber doch so nahe, dass man Handyfotos gerade noch erkennen kann. Sie regeln alles, was sein muss, über den Zaun. Der verbotene Versuch, Schweizer Schoki rüber zu werfen, scheiterte an den Maschen des Drahtes. Nun schmilzt sie in der Frühjahrssonne und produziert hoffentlich keine Extraviren.
Die Hundegeschichte
Wenn Frauchen und Herrchen getrennt leben müssen, reden sie stundenlang über den Zaun, dann verabschieden sie sich und kein Hund kann zurzeit verstehen, warum sie in verschiedene Richtungen auseinander gehen. Also löste er das Problem auf Hundeart: Er riss sich von Frauchen los, wuselte durch den Zaun, - noch zu Zeiten, als es nur einen gab, - und kam freudig auf der anderen Seite bei Herrchen an. Ein mit Viren übersäter deutscher Schäferhund bedeutet eine unendliche Gefahr für die Schweiz, also schritt der Überwachungsdienst ein, nahm den Hund gefangen und übergab ihn an der nächsten Zollstation wieder seinem glücklichen Frauchen.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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