Unter dem Begriff «Long Covid» werden derzeit mögliche Spätfolgen einer Coronaerkrankung immer breiter thematisiert. Es fehlt logischerweise nach einem knappen Jahr an echten Belegen. Deshalb müssen anonymisierte Einzelbeispiele dienen. Und die sind ziemlich kreativ.
«Da ist die Studentin, die ihre Abschlussarbeit nicht schafft, der Ingenieur, der sich seine Pin-Nummer nicht mehr merken kann, und der Taucher, dessen Lunge nach Wochen noch zu schlecht aussieht, als dass er wieder unter Wasser könnte.»
Dieser Absatz stammt aus einem Beitrag der deutschen Nachrichtenagentur dpa, der von diversen Zeitungen übernommen wurde, beispielsweise hier. Der Text dreht sich um Langzeitfolgen des Coronavirus. Die These: Zwar sterben Menschen unter 65 Jahren so gut wie nie an Covid19, aber das Virus stellt ihr Leben dennoch auf den Kopf.
Es ist der ziemlich durchsichtige Versuch, die Gefahr in die gesellschaftliche Breite zu tragen. Denn dass die Risikogruppe so klar umrissen ist - hohes Alter, Vorerkrankungen -, torpediert die Angst in der Gesellschaft und damit die Bereitschaft, die Massnahmen mitzutragen. Ein neuer Angstherd muss her.
Da fällt eine Studentin also bei einer Prüfung durch. Das gibt es. Und es kann viele Ursachen haben. Zu wenig gelernt beispielsweise. PIN-Nummer vergessen? Ich oute mich, das passiert mir gelegentlich, mein Banker kann das bezeugen. Noch öfter bei Passwörtern. Und dass die Lunge recht lange in Mitleidenschaft gezogen ist nach einem viralen Infekt, das ist auch nicht neu. Ob die Beispiele frei erfunden oder real existierend sind: Ein Beleg für weit verbreitete Langzeitfolgen, auch als «Long Covid» oder «Post Covid Syndrom» bezeichnet, sind sie nicht.
Natürlich gibt es verbreitete Nachwehen eines Infekts. Ein Husten, der eine Weile lang bleibt, vermehrte Atemnot, allgemeine Erschöpfung. Das kennen auch Menschen, die an der ordinären Grippe erkrankt waren, je nach allgemeiner Verfassung plagt sie das noch einige Zeit. Verschiedene Studien sollen das im Fall von Corona belegen, die dpa führt eine aus Italien auf, bei der über 80 Prozent der Leute angaben, auch nach 60 Tagen noch unter «einem oder mehreren Symptomen» zu leiden. Welche das im Detail sind, wie ausgeprägt sie auftreten, ob sie ursächlich mit dem Virus zusammenhängen oder noch andere Faktoren vorliegen: Man weiss es nicht. Der Versuch, in jüngeren Altersgruppen systematische Spätfolgen von Corona aufzuzeigen, ist überaus bemüht.
Die dpa versucht es mit einem weiteren Beispiel, einem Mann, der noch lange nach der Erkrankung nicht richtig auf die Beine kam. «Der 51-Jährige litt am Guillain-Barré-Syndrom, einer entzündlichen Erkrankung der Nerven mit Muskellähmungen, die nach derzeitigem Kenntnisstand in Einzelfällen auch bei einer Corona-Infektion entstehen kann.»
Da ist jemand an Corona erkrankt, hat danach ein Syndrom entwickelt, das «vereinzelt» auch bei einer Coronainfektion entstehen kann: Fertig ist die Wandersage, die belegen soll, wie gefährlich das Virus über die Risikogruppen hinaus ist.
Was gesichert ist, ist nur die Unsicherheit: Das Guillin-Barré-Syndrom zeichnet sich dadurch aus, dass der Medizin seine Ursachen nicht bekannt sind. Man vermutet, dass ein vorausgegangerer Infekt in einigen Fällen verantwortlich ist für die Auslösung.
Man vermutet in einigen Fällen einen Infekt. Der Satz zeigt, dass die Schulmedizin bei diesem Syndrom nach wie vor vor einem Rätsel steht. Aber hatte jemand zuvor Corona, ist der Fall klar und der Kronzeuge perfekt.
Einfacher wäre es natürlich, auf die tausenden und abertausenden Beispiele von einst Coronaerkrankten unter 65 Jahren hinzuweisen, die längst wieder ihrer Arbeit, ihrer Freizeit, ihrem Sport nachgehen. Sie sind die Masse. Sie sind die Norm. Doch die Norm ist nicht dienlich, wenn es darum geht, auf Teufel komm raus ein Bild in den Köpfen zu festigen.
Tatsache ist: Ein Spitalaufenthalt ist selten gesund. Nicht weil das Spitalperson schlecht arbeitet, sondern weil die Umstände nicht ideal sind. Man liegt lange, Muskeln verkümmern, die Psyche leidet, man ist umgeben von anderen Krankheitsbildern. Gewisse Folgen wie Thrombosen, Schlaganfälle, aber natürlich auch Infektionen aufgrund mitgebrachter «Käfer» werden in der Nachphase einer Hospitalisierung oft genug beobachtet. Vor allem natürlich nach einem Aufenthalt auf einer Intensivstation.
Doch eben: Ist Covid19 im Spiel, kann es ja nur das gewesen sein. Bereits gebe es erste Selbsthilfegruppen von Betroffenen von «Long Covid», weiss die Nachrichtenagentur: Vor allem gehe es darum, über das Erlebte zu sprechen, sich gegenseitig bei der Genesung zu unterstützen und fachliche Informationen zu sammeln, sage der Gründer einer solchen Gruppe, so die dpa.
Selbsthilfegruppen dürfte es in Zukunft in der Tat immer mehr geben. Solche von Suizidgefährdeten, die mit der sozialen Isolation und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft nicht mehr fertig werden. Solche von wirtschaftlich ruinierten Kleinunternehmern, denen durch die Massnahmen die Existenz geraubt wurde. Solche von Menschen, die aufgrund der in Aussicht gestellten nachhaltigen Veränderung der Gesellschaft keinen Sinn mehr sehen, weiterzumachen.
Aber die dpa stürzt sich lieber auf einen Mann, der seinen Pin-Code vergessen hat.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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