Autor/in
Stefan Millius
Stefan Millius (*1972) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz». Seine Stationen führten über das «Neue Wiler Tagblatt», Radio aktuell, die ehemalige Tageszeitung «Die Ostschweiz» zum «Blick».
Stefan Millius (*1972) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz». Seine Stationen führten über das «Neue Wiler Tagblatt», Radio aktuell, die ehemalige Tageszeitung «Die Ostschweiz» zum «Blick».
Vor einigen Jahren kam kein Wirtschaftsanlass aus ohne ein Referat von «Querdenkern». Sie galten als belebende Inspirationsquelle auf ausgetretenen Pfaden. Inzwischen ist aus dem Begriff ein Schimpfwort geworden. Dabei sind sie der letzte Schutzwall vor dem Missbrauch der Macht.
Christoph Waltz bei der Oscarverleihung 2010. (Bild: Zadi Diaz)
Christoph Waltz ist ein Jahrhundertalent, keine Frage. Der Schauspieler könnte in der letzten Schmierenkomödie auftreten, und man hätte danach dennoch das Gefühl, etwas Wichtiges gesehen zu haben. Fünf Minuten im Kinosaal mit ihm auf der Leinwand vermitteln jedem den Eindruck, dass das Leben doch einen Sinn hat. Waltz ist zeitlos, Waltz funktioniert auch in 100 Jahren noch. Wenn er im Auftrag von Quentin Tarantino ein Glas Milch trinkt, wirkt es, als würde gerade Geschichte geschrieben, bevor er ein Wort sagt. Diese Mimik, dieser Blick, diese Gestik: Es ist Perfektion für jeden Cineasten.
Eine lebende Legende gewissermassen, dieser Waltz. Bis er ganz plötzlich in einem harmlosen Interview sehr seltsame Dinge sagt jedenfalls.
Wie zum Beispiel das hier:
«Diese Leute, die sich Querdenker nennen, denken entlang des Brettes, das sie vorm Kopf haben.» Oder auch: «Ja, wenn du das Tragen einer Maske als das Beschränken deiner Grundrechte empfindest, dann hast du schon mal im Denkvorgang ein Problem. Der ist nicht quer. Der ist einfach nur deppert.»
Der Mann, der sich jeden Tag nach dem Aufwachen die Frage stellen darf, an welchen seiner verschiedenen Wohnsitze er heute in der Privatklasse oder mit einem geliehenen Privatjet reisen soll, sitzt in einem fetten Stuhl, lässt sich von devoten Journalisten bewundernd anstarren und ausfragen und walzt – sorry für das Wortspiel – mal schnell die Sehnsucht der einfachen Leute nach ihren Grundrechten und einem Stück Normalität nieder. Sind doch alle deppert.
Ob Waltz wohl selbst überhaupt eine Maske besitzt? Einkaufen muss er kaum, dafür gibt es Personal. irgendwo anstehen sowieso nicht. Und wenn die Paparazzi lauern, ist es schon fast eine Krönung, dennoch kurz ein Stück Stoff übers Gesicht zu streifen. Abgedrückt ist der Auslöser in wenigen Sekunden, dann gehts in die bereitgestellte Limousine, und am nächsten Tag ist in den Schlagzeilen brav dokumentiert: Christoph Waltz ist einer von den Guten. Er trägt Maske!
In aller Fairness: Er ist damit ja nicht allein. Quer über den Globus teilen uns vom Schicksal bevorzugte Menschen laufend mit, wie wir uns gefälligst zu fühlen und zu verhalten haben, während sie über all dem schweben, weil sie einen Sonderstatus haben. Weil es sie nicht wirklich betrifft im Alltag. Und sie können es sich leisten, keine Fragen zu stellen, mehr noch, sie verzichten sehr gerne darauf, weil das ja ein Stolperstein fürs nächste Engagement sein könnte. Gesellschaftliche Gedanken formulieren sie immer dann, wenn sie davon ausgehen können, dass sie sich auf sicherem Grund bewegen. Auf dem Grund des Establishments, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind.
Sie benötigen bei ihren moralischen Belehrungen nicht einmal klare Belege dafür, dass ihre Gedankengänge inhaltlich korrekt sind, es reicht schon das diffuse Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.Und wo die ist, das ist auch klar.
Waltz beispielsweise sagt weiter über die Motive der sogenannten Querdenker:
«Das liegt daran, dass sie sich nicht am Gedeihen der Sache beteiligen wollen. Es liegt daran, dass sie glauben, für sich einen Vorteil zu beziehen, wenn sie das Naheliegende demontieren.»
Am Gedeihen einer Sache? Das Naheliegende? Umschreibt der im relativen Alter zum Star gewordene Schauspieler damit wirklich die irrlichternde Politik seiner Heimat Österreich oder seiner Wahlheimat Deutschland, die zwar keinen Virus besiegt, aber dafür alles andere in die Knie zwingt?
Was genau bezogen auf die Schutzmassnahmen seit bald einem Jahr liegt für Waltz dort «nahe»? Welche Sache soll man «zum Gedeihen» bringen? Die laufende Demontage der Privatsphäre? Die zunehmende Relativierung der Grundrechte? Das Verschwinden der Versammlungs- und Meinungsfreiheit? Den Einzug der reinen Willkür in die Gesetzessammlung? Und wer genau bezieht einen Vorteil, wenn er sich gegen all das wehrt? Es ist ein persönlicher Vorteil, wenn man sich jederzeit mit so vielen Leuten treffen kann, wie man will? Seit wann handelt man egoistisch, wenn man sich dem Abbau von all dem widersetzt, was in Jahrhunderten mühsam erarbeitet wurde? Was unsere Gesellschaft ausmacht?
Das Ganze ist ein Beispiel der Eigendynamik, welche die Coronasituation ausgelöst hat. Sie deutet Begriffe um. Wann wurde aus dem Querdenker, den noch vor kurzem alle bejubelten als den, der sich nicht den Normen beugt und den Mut hat, Konventionen hinter sich zu lassen, eigentlich eine Unperson? In welcher Redaktionsstube wurde beschlossen, nicht nur den «Coronaleugner» oder den «Coronaskeptiker» zu kreieren, sondern gleich auch noch «quer» zum Unwort zu machen?
Denn wir erinnern uns lebhaft. Es gab einst keinen wuchtigeren Schulterklopfer als die Bezeichnung als Querdenker. «Digitalisierer der Wirtschaft – Die neuen Querdenker» titelte einst das deutsche «Handelsblatt» und zitierte den Chef einer Personalberatung wie folgt:
«„Leute mit der ‘Lizenz zum Rumspinnen‘ sind derzeit extrem gesucht. Ein CDO soll das Unternehmen zukunftstauglich machen. Es geht darum, sich auszuprobieren, auch mal mit Start-ups zusammenzuarbeiten und das etablierte Geschäftsmodell der Firma herauszufordern.»
Zukunftstauglich machen. Etabliertes herausfordern. Etwas ausprobieren. Kurz: Weiterkommen, indem man quer denkt, statt den gesetzten Linien zu folgen. Klingt eigentlich doch gut? Positiv? Wichtig sogar?
Das ist vorbei. Der Begriff «Querdenker» liegt inzwischen Seite an Seite mit anderen Worten fein säuberlich in eriner Schublade. Weggesperrt, weil man es sich damit erlauben kann, andere Meinungen und die Menschen, die sie vertreten, sicher zu verstauen, damit man sich nicht weiter damit beschäftigen muss.
Die Teilnehmer an einer Demonstration gegen Regierungsbeschlüsse? Das waren einst mutige Helden oder wenigstens Idealisten oder Visionäre. Jedenfalls, wenn sie Kernkraftwerke verhindern oder das Klima retten oder Rassismus bekämpfen oder am besten gleich alles zusammen. Heute hingegen ist einer, der demonstriert, ein Querdenker im schlechten Sinn. Im Zusammenhang mit der Massnahmenkritik sind damit Menschen gemeint, die sich quer stellen zu dem, was richtig und edel ist, während man früher ans Aufbrechen von verkrusteten Strukturen dachte, wenn man von «querdenken» sprach.
In Wahrheit hat sich eigentlich ausser der Verwendung des Begriffs gar nichts geändert. Nach wie vor sind die Querdenker diejenigen, die nicht bereit sind, die offizielle Lesart einfach zu unterschreiben und blind davon auszugehen, dass «die da oben» das schon richtig machen werden. Sie sind, siehe Zitat im «Handelsblatt», immer noch die Leute, die wissen, dass das, was wir heute tun, morgen Wirkung entfaltet. Im Guten wie im Schlechten. Die ein bestehendes Modell hinterfragen und herausfordern und damit die Perspektive für die ganze Gesellschaft öffnen.
Noch immer sind Querdenker deshalb im Zweifelsfall oft die letzte Bastion, die uns davor bewahrt, dass schleichend aus Unrecht Recht wird, nur weil Regierungen beschliessen, dass sie es mit solchen Begriffen nicht mehr so genau nehmen müssen, weil es «die Lage erfordert». Dabei erfordern kritische Lagen eben genau das Festhalten an dem, was uns stark macht.
Die sogenannten Querdenker sind im Idealfall das Korrektiv. Sie sorgen dafür, dass Macht nicht zum Gegenteil dessen verwendet wird, für das sie verliehen wurde. Das sind sie übrigens auch dann, wenn sie mal völlig falsch liegen. Wenn wir keine Gelegenheit mehr erhalten, uns mit richtig oder falsch überhaupt erst auseinanderzusetzen, wie sollen wir dann herausfinden, was richtig ist?
Dass Waltz und Konsorten finden, die gerade Linie, also die unwidersprochene Übernahme von dem, was die offizielle Politik verkündet, sei erstrebenswert und die Auflehnung dagegen ein Unding, widerspricht all dem, was wir der Epoche der Aufklärung zu verdanken haben. Es ist ein Rückschritt.
Ein Brett vor dem Kopf, um auf das Eingangszitat von Waltz weiter oben zurückzukommen, hat kaum der, welcher Zahlen, die ihm täglich serviert werden, hinterfragt – sondern derjenige, der sie widerspruchsfrei glaubt und übernimmt. Querdenken um des Querdenkens willen mag in der Tat keinen Sinn machen. Im Rahmen der grössten Krise seit Jahrzehnten, die notabene nicht von einem Virus verursacht wurde, sondern mutwillig hausgemacht ist, quer zu denken, ist hingegen eine bitter nötige Qualität.
Das mag von einem Luxushügel in Los Angeles aus, auf dem man am Sonntagmorgen bei Brad Pitt oder Leonardo DiCaprio schnell ein bisschen Butter ausleihen kann, schwer abzuschätzen sein. Waltz hat sich diesen Status mit seinem Talent ja auch verdient, es sei ihm gegönnt.
Die einzige Frage ist, ob man dann nicht auch vor sich selbst die Gnade haben müsste, zu schweigen, wenn es um das Schicksal der Leute geht, die jeden Tag um ihr Auskommen kämpfen. Die Zeiten sind bei Christoph Waltz erkennbar schon lange vorbei. Er weiss deshalb nicht, wovon er spricht. Und er soll stattdessen verdammt nochmal viele Filme drehen.
Das kann er nämlich.
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