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Fortsetzungsroman

Der Tod ist ein Kommunist - Teil 13/13

Nach dem Beststeller «Der letzte Feind» (2020) präsentiert Giuseppe Gracia mit «Der Tod ist ein Kommunist» ein Buch, das sich liest wie ein vergnügter Fiebertraum. «Die Ostschweiz» publiziert das gesamte Buch in mehreren Teilen – inklusive Audiofile. Heute Teil 13 – und damit das Finale.

Giuseppe Gracia am 06. März 2022
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Das Buch kann über den Verlag oder Orell Füssli bestellt werden.

Sämtliche Kapitel werden auf unserer Seite im Menüpunkt «Journal» unter der Rubrik «Fortsetzungsroman» aufgeschaltet.

Kapitel 13

Auf dem Weg nach oben führte Shanti die Gruppe an. Durch den antiken, glockenförmigen Raum gelangten sie in die Katakomben. Dort trafen sie auf den Mercedes-Fahrer, der sich auf der Flucht wohl verirrt hatte.

Unterwegs spürten sie, im Untergrund, Erschütterungen, ein Rumpeln, Kollern, Donnern. Stiller wurde es erst, als sie einen von Spinnweben durchkreuzten Gang erreichten. Der führte zu einer Wendeltreppe, und die Treppe zu einem letzten, staubigen Hohlraum, der sich neben der Krypta der Münsterkirche befand.

Oben angekommen, eilten sie durch die Stille des Kirchenschiffs und gelangten nach draussen, endlich – unter den freien Himmel. Wie schön es war, die Morgendämmerung zu sehen, die gerade eingesetzt hatte, wie schön die frische Luft!

Hofstetters Herz machte einen Freudensprung.

«Wir haben es geschafft!»

«Gute Arbeit,» sagte Brenner.

Hofstetter konnte es nicht fassen. «Das war eine schwer gestörte Gruppe da unten.»

«Aber wir haben sie aufgehalten,» sagte Nathalie. «Wir haben das Ritual gestoppt.»

Hofstetters Freund, der Professor, wirkte nachdenklich.

«Alte heidnische Riten, sehr interessant. Es muss noch mehr Logen geben, die einer naturvölkischen Tradition anhängen, mit Geisterbeschwörung, Opferaltar, Blutorgien.»

Angewidert schüttelte Shanti den Kopf.

«Vorkoloniale Ethnien,» fuhr der Professor fort. «Azteken, Majas, Inkas. Sind fast alle verschwunden heute. Wurden brutal verdrängt, vom Christentum.»

Hofstetter nickte. «All die schönen Kindstötungen, Jungfrauen-Erdrosselungen, Menschenfleisch-Barbecues.»

«Skrupellos missioniert und ausgelöscht von den Christen.»

«Total. Auch die Schrumpfköpfe im Museum, mit zugenähtem Mund, damit die Racheseele nicht entweichen kann.»

Roland nahm Shantis Hand, schaute ihr tief in die Augen. «Du hast uns aus der Hölle herausgeführt. Wir stehen in deiner Schuld. Die Kinder des Lichts stehen in deiner Schuld.»

«Die Menschheit steht in deiner Schuld,» ergänzte Brenner.

«Genau,» bestätigte Hofstetter. «Und dieses ‘Ah-Puch’ war wirklich der Hammer.»

Jetzt warf Brenner einen Blick zurück zur Kirche.

«Wartet – es ist noch nicht vorbei.»

«Wie? Nicht vorbei?»

Einige Sekunden verstrichen, dann war es zu spüren, unter ihren Füssen, wie ein nahendes Beben.

«Das blendende Licht des Feuertodes.»

«Das blendende was-?»

«Es ist explodiert. Es kommt. Macht die Augen zu.»

Alle machten die Augen zu. Ausser Hofstetter. Bevor das Licht der unterirdischen Explosion den Münsterplatz erreichte, wollte er Nathalie in die Arme nehmen. Er küsste sie – über ihnen der Himmel des neuen Tages, wie ein Versprechen.

In den nächsten Wochen ging es für Brenner und seine Leute aus der Zukunft darum, sich zu erholen und einen neuen Platz zu finden. Einen Platz in der Welt des Jahres 2021, für deren Rettung sie die Welt von 2075 verlassen hatten. Ein Welt, in die sie nicht zurückkehren konnten, denn für die Zeitmaschine war es bekanntlich nicht nur nicht möglich, Laserwaffen zu transportieren, sondern ebenso wenig, Zeitreisende nach 2075 zurückzuholen.

Brenner war der erste, der eine Aufgabe fand. Aufgrund seiner militärischen Talente engagierte ihn die Kantonspolizei Zürich als Nahkampf-Ausbildner. Später wurde er Sicherheitsberater der Regierung. Er kümmerte sich um Geheimlogen und andere, staatsgefährdende Gruppen. Insbesondere Gruppen, die durch das Verbreiten apokalyptischer Ängste politische Macht anstrebten. Ängste in Bezug auf Pandemien, auf den Klimawandel oder das böse kapitalistische System. Brenner kümmerte sich auch um Antisemiten aus dem rechtsnationalen Milieu. Ausserdem um muslimische Antisemiten, um esoterische Antisemiten, um linkssozialistische Antisemiten, um antifaschistische oder grüne Antisemiten. Sowie um alle anderen Antisemiten in den Universitäten, Parlamenten und Redaktionsstuben Europas.

Der Mercedes-Fahrer folgte Brenners Weg und baute mit ihm ein Spezialkommando auf, die erste Anti-Grössenwahn-Brigade der Welt. Bei ihrem ersten Einsatz – in der Nähe von Kalifornien – stürmten sie ein Treffen humanistischer Multimilliardäre, die gerade an der digitalen Optimierung der Menschheit arbeiteten (unter Einfluss der verlockenden Idee, zuerst einmal die alte Menschheit abzuschaffen).

In diesem Zusammenhang lancierte Brenner eine Aufklärungskampagne, um einer breiteren Bevölkerung aufzuzeigen, wie Weltverbesserer tickten. Dass es vielen von ihnen darum ging, die Menschen zu reinigen – reinigen von falschen Überzeugungen oder minderwertigen Lebensweisen (Faschisten), vom bösen Kapitalismus (Kommunisten) oder von einem System ungerechter Freiheiten (Sozialisten). Brenner wollte zeigen: solche Weltverbesserer verachteten den realen, schwachen Menschen im Grunde, weil er ihnen nicht stark genug war, nicht gerecht genug, nicht klimafreundlich genug.

Roland und Shanti verbrachten die kommenden Jahre weniger politisch und kämpferisch. Sie gönnten sich eine Weltreise, die sie sehr glücklich machte und dazu brachte, sich auf einer karibischen Insel niederzulassen. Seither hat man nichts mehr von ihnen gehört, was ein gutes Zeichen ist, denn wie sollten sie in der Karibik nicht noch glücklicher geworden sein?

Der Professor nahm das Angebot für eine regelmässige Kolumne in der «Zürcher Allgemeine Zeitung» an. Eine solche Kolumne erlaubte es ihm, das aktuelle, gesellschaftspolitische Geschehen in populärer Form weltanschaulich einzuordnen. Das war besser als zu versuchen, eine neue Komödie zu schreiben.

Im Übrigen liebte der Professor weiterhin Spaziergänge auf Höhenwegen, unterbrochen von Holzbänken mit herrlicher Aussicht und saftigen Äpfeln. Am liebsten in Begleitung von Hofstetter.

Einmal, auf einer Holzbank mit besonders herrlicher Aussicht, sagte Hofstetter: «Das Wunder der Menschheit ist erstaunlich.»

«Vor allem, dass es noch immer da ist.»

«Das Wunder?»

«Das Erstaunliche der Menschheit.»

«Richtig.» Hofstetter überlegte. «Jetzt habe ich vergessen, worauf ich hinauswollte.»

Der Professor biss in seinen Apfel.

«Jetzt weiss ich es wieder,» sagte Hofstetter. «Wenn man die Jahrhunderte anschaut, die hinter uns liegen, schrammt die Menschheit immer wieder knapp am Untergang vorbei.»

«Sehr knapp.»

«Genau. Aber was ist erstaunlicher: dass wir immer wieder so knapp am Untergang vorbeischrammen? Oder dass wir den Untergang immer wieder so knapp provozieren?»

Der Professor betrachtete seinen angebissenen Apfel. «Beides, mein Freund. Und noch erstaunlicher: diesmal waren wir es, die den Untergang verhinderten.»

«Oder wir haben den Untergang nur verschoben, auf später.»

Der Professor musterte ihn mit seinen graublauen Augen. «Mehr kann man nicht erreichen. Wir leben noch, auch wenn die meisten Leute regierungshörige Angsthasen sind, auf die man sich nicht verlassen kann. Das Leben ist gut, mein Freund.»

Hofstetter schwieg.

«Was ist mit dir los?» fragte der Professor. «Heiratest du nicht bald?»

«Doch.»

«Und ist Nathalie nicht deine Liebe?»

«Doch.» Hofstetter überlegte. «Ich weiss nicht, wie ich es sagen soll. Eine solche Liebe habe ich nie für möglich gehalten, verstehen Sie? Es ist, als müsste ich einem Traum vertrauen, von dem ich spüre, dass er zu schön ist, um wahr zu sein.»

Der Professor nahm noch einen Biss von seinem Apfel. Dann: «Habe ich dir schon erzählt, wie ich damals meine Frau, Gott hab’ sie selig, kennenlernte?»

Nein, persönliche Dinge hatte der Professor eigentlich noch nie mit Hofstetter besprochen. Er wusste nur, dass seine Frau vor acht Jahren gestorben war, Brustkrebs.

«Sie war die Liebe meines Lebens, mein Freund. Seit ihrem Tod ist es eine offene Wunde. Ich vermisse sie entsetzlich. Aber das Leben ist gut, trotz allem.»

«Welcher Teil genau?»

Der Professor blickte in die Ferne, zur Gebirgskette, die sich unter dem Dunst des Himmels abzeichnete, unter langsam dahinziehenden, wattefarbenen Wolken.

«Ich weiss,» sagte er. «Andere wären nicht allein geblieben. Sie hätten ein Jahr oder zwei Schwarz getragen und dann jemanden getroffen, eine neue Liebe, eine neue Ehe. Das konnte ich nicht. Denn sie war es. Niemand sonst.»

«Das ist traurig,» erwiderte Hofstetter. «Und schön. Es ist schrecklich traurig und schrecklich schön. Weil es so schrecklich ist, dass es so schön ist, wenn eine Liebe wie die Ihre möglich ist, obwohl der Tod so schrecklich ist inmitten einer solchen Schönheit, verstehen Sie?»

«Vollkommen.»

«Ich könnte auf der Stelle weinen, wenn wir uns in einem romantischen Jahrhundert befinden würden.»

«Aber das tun wir zum Glück nicht.»

«Nein, nicht im Zeitalter von Smartphone und Porno.»

«Von Angst, Drogen und Fitness.»

«Von Selbstausbeutung als Selbstverwirklichung.»

«Der dauerzerstreute Mensch.»

«Totalverwertet.»

«Und doch,» sagte der Professor, «ist das Leben gut.»

Von dieser Stimmung des Professors liess Hofstetter sich in den kommenden Wochen anstecken und begann an einem Roman zu arbeiten. Titel: «Hinter dem Zitronenbaum». Die Geschichte drehte sich um eine Frau mit grünen Augen, die durch die Zeit reiste, um ihre Liebe zu finden. Eine Frau, die sich für die Liebe ganz verschenkte.

Hofstetter war verblüfft, so etwas zu schreiben, und noch mehr, dafür einen renommierten Deutschen Literaturverlag zu finden, der ihm einen Vertrag anbot, mit einer Gewinnbeteiligung von 11%, was branchenüblich war und ihn sehr freute (den Verleger, nicht Hofstetter).

Bevor das Buch auf den Markt kam, heirateten Nathalie und Hofstetter in einer kleinen Schlosskapelle im Kanton Luzern. Das Ehepaar Flores bestand darauf, das mexikanische Catering zu besorgen, womit Hofstetter einverstanden war, unter der Bedingung, dass es keine Meerschweinchen gab.

Während der Trauung in der Schlosskapelle nahm der Priester (ein Freund des Professors) die Hand von Nathalie und Hofstetter. Er führte sie zusammen, über dem Altar, und wies sie an, seine Worte zu wiederholen.

«Ich bin dein und du bist mein.»

Nathalie: «Ich bin dein – und du bist mein.»

Hofstetter: «Ich bin dein – und du bist mein.»

«Der Tod wird uns scheiden, aber nicht das Leben.»

Sie wiederholten.

«Das Leben wird uns feiern, wie wir das Leben feiern.»

Sie wiederholten.

«Das Leben ist fruchtbar, wie wir fruchtbar sind.»

Sie wiederholten, auch wenn Hofstetter seine Wiederholung kurz unterbrechen und erneut wiederholen musste, da ihm zuerst furchtbar statt fruchtbar herausgerutscht war.

Das Catering war gut, das Hochzeitsfest in der Nähe des Luzerner Sees ausgelassen. Hofstetter tanze lange und fröhlich, was ihn noch mehr verblüffte als der Vertrag mit dem renommierten Verlag.

Auf die Frischvermählten wartete eine Hochzeitsnacht im Grandhotel Le Palace Montreal, bevor die Flitterwochen sie nach Italien führen würden.

Als Nathalie und Hofstetter am späten Abend im Hotel eintrafen, ein 110jähriger Bau im Stil der Belle Epoque, begleitete man sie in die Royal-Suite, wo Blumen warteten, Erdbeeren, Champagner und eine grosse, auf den See hinausgehende Terrasse.

«Das hat Brenner organisiert,» sagte Nathalie.

Hofstetter trat auf die Terrasse hinaus, unter den nachtblauen Himmel, die Sterne glänzend auf dem schwarzen Spiegel des Sees.

«Unglaublich.»

«Ja,» sagte Nathalie. «Brenner hat eine weitere Überraschung vorbereitet. Ich darf es eigentlich nicht wissen, aber Frau Flores hat es mir verraten.»

«Vielleicht ein Feuerwerk über dem See? Würde zu ihm passen.»

Nathalie betrachtete ihn schweigend.

«Worauf wartest du,» sagte sie. «Bring mir ein Glas Champagner.»

Hofstetter eilte zum Eiskübel, schenkte die weissgoldene, schaumig perlende Flüssigkeit in die Gläser und brachte sie zu seiner Frau.

«Es wird ein Knaller sein, gross und hell, du wirst sehen» sagte sie. «Typisch Brenner.»

«Hauptsache, das Hotel steht nachher noch.»

Hofstetter schaute rüber, zum dunklen Glanz des Sees, dann hinauf zu den Sternen – und hatte plötzlich einen schrecklichen Gedanken.

«Ich habe einen schrecklichen Gedanken,» sagte er.

«Jetzt?»

«Ja.»

Nathalie stellte ihr Glas auf die Brüstung der Terrasse.

«Was ist los?» Sie schlang die Arme um ihn, mit der Wärme und dem Duft eines neuen Zuhauses.

«Schrecklich,» flüsterte er. «Was, wenn das alles nur ein Traum ist?»

«Ein Traum?»

«Eine Illusion.»

Sie lächelte: «Dann mach lieber schnell. Küss mich, bevor du aufwachst.»

Hofstetter küsste sie, und der Kuss leuchtete gross und hell über dem See, ganz so, als sei es Brenners Überraschung mit dem Feuerwerk – oder nein, eigentlich noch viel grösser.

ENDE

Highlights

Autor Dani Egger

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Stölzle /  Brányik
Autor/in
Giuseppe Gracia

Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Auschlöschung» (Fontis Verlag, 2024) handelt von der Selbstauflösung Europas.

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