Sogar Maskengegner haben nichts dagegen einzuwenden: Massvolles Abstandhalten zwischen Menschen dient der Gesundheit des Einzelnen – und der Gesellschaft. Die Botschaft ist nicht neu: Sie wurde schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts prominent verkündet.
In meiner Umgebung gibt es Menschen, die mir ihre Zuneigung gerne dadurch bekunden, dass sie mir beim Reden nah und näher kommen. Was dazu führt, dass ich erst erstarre und dann automatisch mindestens einen Schritt zurücktrete. Was leider oft als Ablehnung ebendieser Zuneigung interpretiert wird. Dabei folge ich lediglich jenem biologischen Gesetz, das für jedes Lebewesen eine Fluchtdistanz festlegt. Auch für den Menschen. Wird diese unterschritten, so folgt nach der Erstarrung die Flucht – oder der Angriff. Touristen, die gerne Bären in Grossaufnahme fotografieren, bezahlen die Verletzung dieses Gesetzes immer wieder mal mit dem Leben. Bei Menschen geht der Verstoss gegen das Naturgesetz meist glimpflicher aus – jedenfalls bei mir.
Dass es nicht ratsam, ja eigentlich unvernünftig ist, wenn Menschen sich zu Massen zusammenrotten, ist keine neue Erkenntnis.
Am treffendsten hat dies der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer beschrieben, in seiner Sammlung kleiner philosophischer Schriften «Parerga und Paralipomena» von 1851. Es ist wohl einer seiner berühmtesten Aphorismen und geht so:
«Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mässige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.»
Im zweiten Teil seiner Überlegungen erinnert Schopenhauer unter anderem daran, dass man Menschen, die in England diese durch «Höflichkeit und Sitte» entstandene «mittlere Entfernung» nicht einhielten, zurief: «Keep your distance!» Es sind also keineswegs unsere einheimischen Corona-Halbgötter aus Funk und Fernsehen, die das Social Distancing erfunden haben…
In einem kurzen dritten Abschnitt folgte das persönliche Bekenntnis des prominenten Einzelgängers, der oft (und nicht ganz zu Unrecht) als Misanthrop und Frauenfeind bezeichnet wurde: «Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.»
Für Leser, die finden, derlei angejahrtes Bildungsgut habe in einem jungen Medium namens «Ostschweiz» nichts verloren, gibt es eine schlagende Antwort: Einer der weltweit besten Schopenhauer-Kenner überhaupt ist der frühere St.Galler Stadtarchivar und Historiker Ernst Ziegler. Wer etwas über Schopenhauer wissen will, hatte es hierzulande also noch nie weit.
Womit der kilometersparend umweltfreundliche, lokalpolitische Nutzen dieser Kolumne ja wohl endgültig bewiesen wäre.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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