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Homosexualität

Die Badehose brachte die Erleuchtung

Liberalismus und Akzeptanz tönen zwar in der Theorie gut – in der Praxis sieht der Alltag von Homosexuellen aber häufig ganz anders aus. Sie müssen sich gegen viele Vorurteile durchkämpfen, wie der Ostschweizer Fritz Rufer im Interview erklärt. Der 35-Jährige hatte vor 20 Jahren sein Coming-Out.

Nadine Linder am 22. Juli 2020

Erinnerst Du Dich an den Moment, als Dir klar wurde, dass Du auf Männer und nicht auf Frauen stehst?

An diesen Moment erinnere ich mich genau. Als ich 14 Jahre alt war, wollte ich mir eine Badehose im Katalog auswählen. Zuerst habe ich Bikinis angeschaut, weil die anderen Jungs aus meiner Klasse gesagt haben, Frauen, die einen Bikini tragen, sind geil. Ich spürte aber keinerlei sexuelle Erregung. Als ich die Badehose für mich bei den Männermodellen auswählte, merkte ich, dass ich die nackten Oberkörper der Männer sexuell anziehend fand.

Wie hast Du Dich damals gefühlt?

Zuerst legte ich diesen Moment als einmaliges Erlebnis ab. Einige Wochen später merkte ich, dass ich die Jungs in meiner Klasse sexuell erregender fand als die Mädchen. Ich war völlig verwirrt. In der Schule hatten wir das Thema gleichgeschlechtliche Liebe nur kurz angeschnitten. Auch in der Schulbibliothek fand ich nur ein kleines Kapitel dazu. Ausserdem kannte ich niemanden aus meinem Umfeld, der selber homosexuell war. Zum Glück kam in dieser Zeit das Internet auf, so dass ich mich informieren konnte. Leider standen damals meist negative Artikel zum Thema Homosexualität im Netz. Diese Informationen bestärkten mich in meinem Gedanken, dass es wohl das Beste wäre, wenn ich einen tödlichen Unfall habe würde. Dann würden meine Eltern und Geschwister nicht dem Spott des Dorfes ausgesetzt werden, nur weil ich mich von Männern angezogen fühle. In den darauffolgenden Wochen zogen mich diese Gedanken in eine depressive Phase mit Suizidgedanken. Eines Tages kam zum Glück folgender rettender Gedanke, nachdem ich mich mit dem Thema Bisexualität befasst habe: «Wahrscheinlich bin ich bisexuell und die sexuelle Anziehung zu Frauen wird eines Tages kommen.» So konnte ich meine Sexualität besser akzeptieren. Rückblickend weiss ich, dass ich mich mit dieser Aussage selbst belogen habe.

War es Dir vielleicht schon als kleiner Junge klar, dass Du «anders» tickst?

Ich merkte schon zu dieser Zeit, dass ich nicht gerne raufte, wie die Jungs in meiner Klasse und nicht so sportaffin war wie andere Jungs. Bewusst war mich das sicherlich nicht.

Wird man Deiner Meinung nach schwul geboren oder zu einem Schwulen erzogen?

Ich habe mich sehr mit diesem Thema beschäftigt. Bis jetzt kommen alle mir bekannten Artikel und Podcast zum Schluss, dass die Erziehung keinen Einfluss auf die sexuelle Orientierung der Kinder hat. Ich habe mich zu diesem Thema auch in meinem Umfeld umgehört. Dieses bestätigt meine Aussage.

Mit wem hast Du als erstes über Deine Homosexualität gesprochen?

Daran mag ich mich sehr gut erinnern. Es war an einem Samstagabend. Ich sollte meine beste Freundin küssen, weil ich eine Wette verloren hatte. Die beiden anderen Freunde mussten aber kurz vor dem Kuss weg. Ich sagte zu mir: «Jetzt oder nie.» Schon zu lange hatte ich diese Last alleine mit mir herumgetragen. Als ich es ihr sagte, meinte sie nur: «Na und? Du bist ja immer noch derselbe.» Mir fiel ein grosser Stein vom Herzen.

Wie haben Deine Familie und Dein Umfeld auf Dein Coming-Out reagiert?

Mein Vater hatte Mühe mit meinem Outing. Er wurde sehr konservativ erzogen. Er meinte, dass es sicher eine Phase sei. Lange schwieg er dieses Thema tot. Ich habe dann meine Homosexualität in alltägliche Gespräche zwischen uns einfliessen lassen. Wenn er beispielsweise gefragt hat, was ich heute mache, sagte ich ihm, dass ich mit meinem Freund ins Kino gehe. Mittlerweile hat er meine Homosexualität voll akzeptiert. Beim Rest meiner Familie und Freunden war mein Outing zum Glück kein Thema. Ich bin unendlich froh, dass dies so war. Diese Reaktionen bestärkten mich, offen schwul zu leben und zu mir stehen zu können.

Welche negativen Erfahrungen hast Du als Homosexueller in Deinem Leben gemacht?

Es gab ein paar wenige Kollegen, die sich zurückgezogen haben, nachdem sie wussten, dass ich schwul bin. Ich arbeitete eine Zeit lang mit Jugendlichen, die in einem schwierigen Umfeld aufgewachsen sind. Ein paar junge Klienten fanden nach einer Zeit raus, dass ich schwul bin. Sie mobbten mich teilweise. Am Anfang war es für mich sehr schwierig, damit umzugehen. Ich fühlte mich verletzt, hilflos und auf meine Homosexualität reduziert. Ich musste lernen, mich gut abzugrenzen. Ich merkte auch, dass sie unter anderem aus Unwissenheit so reagierten. Ich suchte also immer wieder das Gespräch. Zu dieser Zeit war ich sehr froh, dass mein Arbeitgeber und meine Arbeitskollegen hinter mir standen.

Wir leben im Jahr 2020. Wie tolerant geht die heutige Gesellschaft mit Schwulen und Lesben um?

Unsere Gesellschaft geht zum Teil offener und toleranter um in Bezug auf Homosexualität. Dies konnte man beispielsweise am deutlichen Abstimmungsergebnis der Initiative zum Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung sehen. Leider gibt es weiterhin täglich verbale und tätliche Angriffe auf LGBTI Personen. Aus diesem Grund trauen sich viele gleichgeschlechtlich liebende Menschen nicht, sich offen in der Gesellschaft zu bewegen. Händchenhalten durch die Stadt laufen, sich spontan einen Kuss geben in der Öffentlichkeit ist für viele aus Angst vor negativen Reaktionen nicht möglich.

Ist es je nach Herkunft und Religion schwieriger oder einfacher auf Toleranz zu stossen?

Herkunft und Religion können meiner Meinung nach Einfluss auf die Toleranz haben.

Trotzdem darf sich jeder Mensch mit den Werten und Normen, die Herkunft und Religion mit sich bringen, auseinandersetzen und positive Anpassungen im Bereich Toleranz vornehmen.

Noch heute wird «schwul» als Schimpfwort benutzt. Wie fühlst Du Dich dabei und wie entgegnest Du einer Person, die so spricht?

Ich fühle mich ehrlich gesagt nicht persönlich betroffen. Ich weise aber Personen darauf hin, dass sich ein homosexueller Mann betroffen fühlen könnte. Den Meisten ist das gar nicht bewusst und sie sagen dann auch, dass sie es nicht so meinen.

Was sagst Du zu diesen Vorurteilen: «Schwule sind weniger Mann als hetero Männer!»

Um dies beurteilen zu können, müsste ich zuerst wissen, welche einheitliche Definition von «Mann sein» existiert. Ich habe im Internet recherchiert und festgestellt, dass sehr viele unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema vorhanden sind.

«Schwule sind übersensibel und tuntig!»

Es gibt Männer, welche sensibler sind als andere. Dies ist unabhängig von der sexuellen Orientierung. Menschen sind individuell. Es gibt Schwule, die diese Eigenschaften mit Stolz nach aussen tragen. Das ist auch gut so. Ebenso gibt es Männer, denen man ihre Homosexualität nicht ansieht.

«Für Schwule zählt vor allem Sex!»

Sexualität ist für die meisten Menschen ein Grundbedürfnis. Dies hat aber nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun.

«In einer schwulen Beziehung ist immer einer die Frau!»

Wie würde ich denn die «Frau» in einer schwulen Beziehung erkennen? Kochen, putzen, am Herd stehen? Ich kenne in meinem Umfeld sehr viele Hetero-Beziehungen, in denen Männer beispielsweise den Kochlöffel schwingen, staubsaugen oder auch sonstige Haushaltarbeiten ausführen, da beide arbeiten. Dies ist in gleichgeschlechtlichen Beziehungen nicht anders.

«Schwule sollten keine Kinder grossziehen dürfen!»

Was spricht dagegen? Bei Diskussionen über dieses Thema kommt oft das Argument, dass Kinder eine Mutter und einen Vater haben müssen. Bei alleinerziehenden Müttern und Vätern fehlt ebenfalls ein Teil. Deswegen sind sie nicht schlechtere Eltern. Wichtig ist, dass ein Kind Bezugspersonen beider Geschlechter hat. Diese Funktion kann beispielsweise durch eine Tante oder ein Onkel, Gotti oder Götti des Kindes übernommen werden.

Wie wird sich Deiner Meinung nach die Toleranz für Homosexuelle in den nächsten Jahren verändern?

Ich hoffe, dass sich die rechtliche Situation verbessern wird. Ich denke da vor allem an die Ehe für alle. Ich hoffe auch, dass es durch die vermehrte Aufklärung und mit der Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes zukünftig zu weniger verbalen oder tätlichen Angriffen auf LGBTI Menschen kommen wird.

Was würdest Du Dir von der Gesellschaft wünschen?

Ich wünsche mir, dass alle Menschen ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft werden, unabhängig ihrer sexuellen Orientierung und/oder Identität.

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Autor/in
Nadine Linder

Nadine Linder war Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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