Das Jahresende naht, bald ist Weihnachten. Kinder mögen sich fragen, was unter der Tanne liegen wird. Anleger fragen sich, was das nächste Jahr bringt. Zeit für Wahrsager.
Früher fragten sich viele Besitzer eines Spargroschens: Wie mache ich aus meinem Geld mehr Geld? Heutzutage sind sie schon glücklich, wenn dank Negativzinsen aus Geld nicht weniger Geld wird.
Früher stand der freundliche Bankbeamte gerne zur Verfügung, auch wenn es um die Anlage von läppischen 10'000 Franken ging. Heute bekommt der Kunde einen Bankberater nur dann persönlich zu sehen, wenn er eine Million, besser noch zehn anlegen möchte.
Umso wichtiger werden daher die gewichtigen Meinungen von Chefökonomen, Chief Investment Officers, Experten, die ihr geballtes Fachwissen vor dem Publikum ausbreiten. Und menschenfreundlich Ratschläge erteilen, wie man das Ersparte möglichst profitabel anlegen könne. Man muss da einmal klar festhalten: Das zeigt, dass der Banker auch ein Herz hat, an den Mitmenschen, an den Kunden denkt, und nicht nur ans eigene Portemonnaie.
Mit welchen Zukunftsperspektiven beschenken uns die Banker, geschöpft aus tiefschürfender Analyse, gestützt durch Computersimulationen mit ellenlangen Algorithmen, aufgewertet durch die Anwendung von Formeln, die selbst einen Quantenphysiker ins Schwitzen geraten liessen?
Fangen wir beim «CS-Experten» Burkhart Varnholt an. Der lehnt sich aus dem Fenster und verkündet: Der SMI werde in zwölf Monaten «wahrscheinlich» auf «über 10’300 Punkten» stehen. Der Euro «könnte» bis Ende 2020 auf 1.15 Franken steigen.
Nun, wir danken Varnholt für diesen Blick in die Zukunft, darauf kann man sicher bauen. Tja, das Blöde an Prognosen ist aber, dass vergangene an der Realität überprüft werden können. In seiner, nun ja, etwas volatilen Karriere verkündete Varnholt im Jahre 2015, dass er den SMI auf 20'000 Punkte hochrauschen sehe. Das wiederholte er auch 2018, die Börsenkurse würden sich «in den nächsten fünf Jahren mehr als verdoppeln». Der SMI liegt aktuell bei rund 10'300 Punkten. Also lautet Varnholts aktuelle Prognose, dass er in einem Jahr genau auf diesem Niveau dümpelt.
Und wieso der Schwindsucht-Euro in einem Jahr gegenüber dem Franken an Wert zulegen sollte, das wissen auch nur Varnholt und seine Glaskugel. Also nichts anderes als ein Dampfplauderer, ein Dummschwätzer.
Was meint denn der «Chefökonom Raiffeisen» zu den Zukunftsaussichten? Vielleicht befindet sich unter dem wallenden Haupthaar von Martin Neff mehr seherische Kraft als unter der Glatze von Varnholt. «Wir hängen am Tropf der Weltwirtschaft», weiss der, «die Gefahren kommen aus dem Ausland», warnt er, «Investitionen in Immobilien sind nahezu alternativlos», rät er.
Oh, Pardon, da bin ich doch glatt verrutscht, das war sein Ausblick auf 2019. Wie sieht es denn 2020 aus? «Wir hängen am Tropf des Nordens», weiss er, «wir sind ein Pharmaland», warnt er, das zweite wichtige Standbein der Schweizer Wirtschaft sei «der Tourismus», behauptet er, aber er sieht weiterhin «keine Probleme am Hypothekarmarkt».
Mein lieber Mann, Pharma (und Nestlé) machen zwar einen bedeutenden Teil der Schweizer Exporte aus, aber wir sind in erster Linie ein KMU-Land. Und die Schweizer Tourismusindustrie versteht sich zwar ausgezeichnet auf lautstarkes Jammern und Lobbyieren, macht aber winzige 2,9 Prozent an der gesamten Bruttowertschöpfung der Schweiz aus. Vernachlässigbar, unerheblich, Pipifax.
Und das ewige Loblied Neffs auf Immobilien? Könnte da sein Blick in die Glaskugel durch die Tatsache getrübt sein, dass Raiffeisen die klare Nummer eins im Hypothekarmarkt ist? Der auch ohne seherische Gaben erkennbar immer mehr Anzeichen einer Blase zeigt? Mit zunehmendem Leerstand und ins Absurde gestiegenen Preisen?
Also beide Wahrsager haben schon kräftig danebengehauen, wenn sie nicht im Allgemeinen und Ungefähren blieben. Da wage ich zwei Prognosen, auf deren Eintreffen ich eine Bankgarantie abgebe. Die erste: Es wird unter dem Weihnachtsbaum Bescherung geben. Die zweite: ein Verzicht auf die Dienste solcher Wahrsager würde nicht nur viel Geld sparen, sondern auch eine Lücke hinterlassen, die niemand bemerkt.
«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.