Es gilt nicht mehr, irgendjemanden zu überzeugen. Die Meinungen für den Sonntag sind längst gemacht. Aber es gibt Gedanken, die – hoffentlich – die Zeit überdauern. Abstimmungsresultate sind nur ein Wimpernschlag in der Geschichte. Entscheidend ist: Wer oder was wollen wir sein – auf Dauer?
Sie möchten die Ferien im Ausland verbringen? Das ist in Ordnung. Ich möchte das eigentlich auch. Von Herzen gerne. Andere Kulturen erleben. Einen Wechsel der Szenerie. Einfach entspannen. Dem Alltag entrinnen. Das ist wertvoll. Und Sie haben es verdient. Wir alle haben das.
Sie möchten dieses Konzert sehen? Oder dieses Theaterstück? Kultur ganz allgemein? Und dann steht dort dieser Mann in seiner Uniform, keiner offiziellen, einfach in diesem Aufzug, der suggeriert, dass er etwas zu sagen hat. Er will ihr Zertifikat sehen, das Sie ausweist als jemanden, der eintreten darf. Sie können das natürlich tun, weil Sie vorgesorgt haben, mit einer Mischung aus Stolz und Erleichterung, und auf Sie warten danach zwei Stunden Zerstreuung. Das ist okay. Auch das haben Sie verdient. Keine Frage.
Aber Sie bezahlen einen Preis.
Nicht nur für den Flug. Für das Hotel. Für das Ticket fürs Konzert oder fürs Theater.
Nein, Sie haben lange vorher bezahlt. Nicht in harter Währung. Sondern mit einem Stück Ihres Gewissens. Vielleicht sogar, ohne es zu merken. Aber es ist ein verdammt hoher Preis. Und irgendwann wird Ihnen das bewusst werden.
Es gibt nicht vieles im Jahr 2021, das uns eint. Es gibt Reiche, es gibt Arme, es gibt Leute mit Einfluss und solche, die nichts zu sagen haben. Das war schon immer so, und es wird nie anders sein. Deshalb war es tröstlich, dass es einige wenige Dinge gab, die uns gemeinsam sind. Zum Beispiel, dass wir, wenn wir wollen, die Möglichkeit haben, auszubrechen aus unserem Alltag. Irgendwohin. Ganz einfach, weil wir das Recht darauf hatten. Das selbstverständliche Recht. Grundrechte. Dinge, die über Geld, Einfluss oder Aussehen hinaus Bestand hatten. Allgemeingültig.
Wir sind im Begriff, das zu verändern. Wir sind im Begriff, das, was uns vereint hat, zu brechen. Das blosse Recht, Teil des Ganzen zu sein, Teil der Gemeinschaft, der Gesellschaft. Wir sind im Begriff, eine unsichtbare Linie zu ziehen. Eine Linie, die entscheidet, wer noch dabei ist und wer nicht mehr. Gezogen wird diese Linie von einer Kraft, die mehr und mehr verblasst und im Grunde nie mehr war als ein Schatten.
Wir haben vor, ganz ernsthaft, unsere Schicksalsgemeinschaft zu zerschlagen für den Kampf gegen ein Virus. Ein Ding, das uns befallen kann oder auch nicht. Das uns schädigen kann oder auch nicht. Das, Verzeihung, in den wenigsten Fällen auch den Tod bringen oder fördern kann. Wie seit Anbeginn der Geschichte. Wie es zum Leben gehört. Dem Leben, das übrigens unweigerlich im Tod endet.
Erstaunlich, wie wenig es braucht, um die Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens zum Verschwinden zu bringen. Jeden Gemeinschaftsgedanken, jede Form des Miteinanders. Wie schnell wir uns auf eine Seite schlagen und der anderen müde beim Untergang zusehen. Wie selbstverständlich Menschen bereit sind, Vorteile zu ergattern, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die zu verschwenden, die immer noch reichlich naiv von einer geeinten Gesellschaft träumen, in der jeder dieselben Rechte hat – und plötzlich nicht mehr Teil von ihr sind. Die träumen von einer Gesellschaft, die keine unsichtbare Linie zieht.
Aber ja, natürlich: Es ist ja nur ein Blatt Papier. Oder ein Code in einer App. Technisch ein Pappenstiel. Und noch besser: Jeder kann das kriegen, wenn er oder sie will. Selbst schuld, wer nicht will. Man muss es doch einfach machen, dann ist alles gut. Jeder kann es. Warum gibt es Menschen, die noch zögern?
So hat es in der Geschichte schon oft getönt. Wir erinnern uns. Es hatte damals ja jeder die Möglichkeit, der Partei beizutreten. Es brauchte ja nur eine Unterschrift auf einem Formular. Wer es nicht tat, der musste sich nicht wundern, wenn am Morgen früh die schweren Stiefel einer Uniform im Treppenhaus aufschlugen und der Vater von einem Moment zum anderen verschwand, um nie mehr aufzutauchen ausser Jahre später als Name auf einer Liste, die liegen blieb nach der Befreiung.
Es brauchte damals wie heute so wenig, zu den Siegern zu gehören. Und wer es nicht tut, ist doch selbst schuld. Man muss nicht einmal bereit sein, ein Opfer zu bringen. Sondern nur bereit sein, andere zu opfern. Das ist viel einfacher.
Aber nehmen wir die Geschichte in Schutz. Denn damals brauchte es viele Jahre, bis die Gesellschaft bereit war, diese Linie durch die Gesellschaft zu ziehen und Menschen über die Klinge springen zu lassen. Dieses Mal reichte etwas mehr als ein Jahr. In dieser kurzen Zeit liessen sich diejenigen, die jetzt zu den Siegern der Stunde gehören, überzeugen, dass es in Ordnung ist, andere auf dem Altar der Zeitgeschichte zu opfern. Wer keine Stiefel im Treppenhaus hören will, muss sich eben selbst Stiefel überziehen und das Treppenhaus hochsteigen. Wieso zögern? Das ist doch die weitaus bessere Rolle.
Das ist der Preis, den die Sieger der Stunde bezahlen werden eines Tages. Irgendwann zu merken, was sie getan haben. Wie sie für einen billigen persönlichen Vorteil ein aktiver Teil furchtbarer Dinge waren. Wie sie dazu beigetragen haben, die Gesellschaft, wie wir sie gekannt haben, zu zerstören. Wie sie keinen Gedanken verschwendet haben an die schuldlosen Verlierer eines radikalen Umbaus ohne jede Notwendigkeit.
Die Spritze im Oberarm ist das, was die Unterschrift im Parteibuch war.
Ja, im Sommer 2021 wird es die Privilegierten geben, die tun und lassen können, was sie wollen, weil sie sich entschieden haben, zu denen mit den schweren Stiefeln zu gehören – und nicht zu denen, die unruhig schlafen und auf die Geräusche im Treppenhaus achten. Ja, diese Privilegierten werden hinabsehen auf die, die sich dem verweigert haben.
Aber niemals, kein einziges Mal in der Geschichte, hat eine Kultur auf Dauer überlebt, die auf die Spaltung der Gesellschaft gesetzt hat. Stets hat am Ende die Idee gemeinsamer Werte gesiegt. Und immer waren die Sieger die Besiegten. Früher oder später.
Die Ersten werden die Letzten sein, sagt die Bibel. Man muss nicht einmal gläubig sein, um das zu verstehen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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