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Leitartikel

Die Mutter aller Sonntage: Die Demokratie auf dem Prüfstand

In einer Demokratie ist man frei. So frei, dass man sogar in einer Abstimmung an den Grundfesten der Demokratie rütteln kann. Oder sie niederreissen. Das droht am kommenden Sonntag. Denn aus einer Mischung aus Lockvogelpolitik und Erpressung droht die Selbstaufgabe eines Volkes.

Stefan Millius am 10. Juni 2021

Die einen wollen Geld sehen. Die anderen wollen die «Normalität» zurück. Eine dritte Gruppe wünscht sich «Freiheit». Und einigen ist alles furchtbar egal, aber es wird schon alles seine Richtigkeit haben. Das alles zusammen bildet die voraussichtliche Mehrheit, die am Sonntag Ja zum Covid-19-Gesetz sagen wird. Erstaunlich, mit welcher Nachlässigkeit, fast schon Schlampigkeit, wir unsere direkte Demokratie und unsere Grundrechte behandeln.

Dass wir bei eidgenössischen Vorlagen von der einen oder anderen Seite mit apokalyptischen Ankündigungen beeinflusst werden, was passiert, wenn man sich «falsch» entscheidet, wissen wir. Das gehört zum Spiel. Deshalb geht es stets darum, sich ein eigenes Bild zu machen: Was geschieht wirklich bei einem Ja, was bei einem Nein?

Vielleicht war es auch früher schon so, dass selbst der Bundesrat zu diesem Mittel der Manipulation gegriffen hat, nur ist es diesmal ganz offensichtlich. Die leierkastenartig wiederholte Aussage, ein Ja zum Covid-19-Gesetz sei das einzige Mittel, die Unterstützung für in Not geratene Unternehmen weiterzuführen, ist sachlich schlicht falsch. Und vor allem ist sie ein Hohn für alle Betrieb, die auch eineinhalb Jahre nach Beginn der «Krise» noch kein Geld gesehen haben. Es wäre ein Leichtes, die Unterstützungsmassnahmen in ein eigenes Gesetz zu giessen. Das hat das vergangene Jahr gezeigt, in dem das Parlament plötzlich ein nie gekanntes Tempo an den Tag legen konnte.

Aufgeklärte Stimmbürger müssten reflexartig misstrauisch werden, wenn ihnen eine Regierung eine Vorlage mit einer plumpen Lüge verkauft. Zumal diese Lüge auf reiner Heuchelei basiert. Die finanzielle Unterstützung, der Dreh- und Angelpunkt der Ja-Kampagne, wurde ja erst nötig, weil die Betriebe zuvor durch Massnahmen an den Rand des Ruins getrieben wurden, von denen sich eine nach der anderen als sinnlos oder ineffektiv entpuppt. Man schädigt also zuerst Gesellschaft und Volkswirtschaft, um danach eine «Heilung» zu verkaufen, in der noch viele andere Dinge stecken. Zum Beispiel ein Geldpaket für Verlage, die mehr als ein Jahr lang die Politik der Regierung medial gestützt haben. Und der Aufbau einer Zweiklassengesellschaft, in der nur Menschen, die sich dem neuen Diktat unterwerfen, zur angeblichen «Normalität» zurückfinden.

Das alles ist ziemlich gruselig. Aber das blendet man gerne aus, wenn man ans Meer oder an ein Konzert möchte. Oft ist die Rede davon, die Massnahmenkritiker seien egoistisch, weil ihnen die Maske oder andere Einschränkungen lästig seien und sie in ihrem Kampf gewissermassen über Leichen gehen würden. Aber wie genau nennt man es, wenn Stimmbürger blind ein Ja zu einem Gesetz einlegen, weil sie gerne zurückbekommen möchten, was ihnen ohne Not weggenommen wurde? Ist das die viel zitierte «Solidarität», die sie damit an den Tag legen?

Das Covid-19-Gesetz legt den Grundstein für einen zentralen Umbau der Gesellschaft. Es zementiert eine Vormachtstellung des Staates, die für uns noch vor zwei Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Damit einher geht eine zweite Vorlage, das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, kurz PMT. Es ermöglicht es den Behörden, ohne jeden Beweis, nur auf blosse Verdachtsmomente hin, Leute festzusetzen und zu schikanieren. Mit Terrorismus hat das wenig zu tun, in diesem Bereich gibt es mehr als genug Handhabe. Aber es ist ein Freipass. Man versichert uns, das neue Gesetz werde mit Augenmass angewendet. Das darf man glauben – oder auch nicht. Eher nicht nach den letzten Monaten. Was hält diese Regierung davon ab, künftig massnahmenkritische Leute als eine Art terroristische Gesundheitsgefährder einzustufen?


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Ein Ja zum Covid-19-Gesetz und zum PMT ist keine «falsche» Entscheidung, weil es so etwas in einer direkten Demokratie nicht gibt. Zu «richtig» wird, was eine Mehrheit beschliesst. Aber ein Ja wäre das klare Bekenntnis, dass diese Mehrheit das, was sie am Sonntag tun darf, eigentlich gar nicht mehr will. Sie nutzt ihr aktuelles Recht, um Verantwortung zu delegieren. Sie fühlt sich wohl in einem Staat, der Grundrechte abbaut, die Meinungsfreiheit einschränkt und die Demokratie zu einem attraktiven Label ohne Inhalt degradiert. Eine solche Mehrheit will geführt werden. Und es hat uns immer ausgezeichnet, dass es die Stimmbürgerschaft ist, die letztlich führt.

Eine ehemalige Solidargemeinschaft, die ein weltweit bewundertes Konstrukt aufgebaut hat, wandelt sich zu einem Heer von Einzelkämpfern, das sich einreden lässt, es sei in Ordnung, ein Zertifikat einzuführen, das einen Teil der Gesellschaft im Alltag ausschliesst. «Freiheit» bedeutet neu: Die Freiheit, Ja zu sagen zu schweren Nachteilen. Im gleichen Atemzug wird mit einem angeblichen Terrorgesetz die Unschuldsvermutung abgeschafft und der Weg geebnet für reine Willkür gegenüber unbequemen Leuten.

Das alles kann Angst machen. Es sollte sogar Angst machen. Aber bei vielen ist die Angst vor verpassten Ferien grösser als die Angst vor einer gespaltenen Gesellschaft und dem Abbau von Grundrechten und Demokratie.

Nein, wir sind keine Diktatur. Wir sind einfach nur eine Demokratie, die müde geworden ist, weiterhin eine zu sein.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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