Sie wurden von Balkonen aus beklatscht, aber die meisten von ihnen hatten dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Menschen in Pflegeberufen waren schon immer unersetzlich, schon immer überarbeitet, schon immer zu schlecht bezahlt. Mit Corona kam nun noch eine Art Missbrauch dazu.
M.A. ist seit rund 30 Jahren in der Pflege beschäftigt. Sie kann sich nicht daran erinnern, dass es in dieser Zeit jemals leichter wurde. Eher im Gegenteil. Immer weniger Zeit für die Patienten, immer höhere Erwartungen der Gesellschaft – und eine im besten Fall gleichbleibende öffentliche Würdigung ihres Berufsstands – auf tiefem Niveau. Dass man im Bedarfsfall im Spital, im Pflegeheim oder auch zuhause gepflegt wird, ist in unseren Breitengraden eine Selbstverständlichkeit. Bei allen schönen Seiten, die diese Arbeit auch mit sich bringt: Man braucht ein gewisses Mass an Opferbereitschaft, um diesen Beruf zu ergreifen. Und erst recht, um dabei zu bleiben.
2020 waren M.A. und ihre Berufskolleginnen – es gibt wenig Männer – dann plötzlich im Fokus. Mit einem Mal ging es in der öffentlichen Debatte nicht mehr um die AHV, den Wirtschaftsstandort oder das Verhältnis zu Europa. Alles sprach nur noch von der Gesundheit. Der Volksgesundheit.
Diese sollte um jeden Preis geschützt werden. Oberste Regel: Das Gesundheitswesen vor dem Kollaps bewahren. Die Leute, die dieses Gesundheitswesen an der Front aufrecht erhalten, standen allerdings lange vor Corona oft genug vor dem persönlichen Kollaps. Nur sprach niemand darüber. Vielleicht tauchte am «Tag der Kranken» mal ein Regierungsratsmitglied auf der Station auf, um sich wählerwirksam an einem Krankenbett fotografieren zu lassen. Aber was auch immer dort ins Bewusstsein des Politikers gedrungen war, verschwand schnell wieder.
M.A. hört oft Bemerkungen, wie streng sie es doch derzeit haben müsste. Sie lächelt dann freundlich und denkt sich dabei: Derzeit?
Als hätte Covid-19 eine Art Dammbruch für einen Berufsstand bedeutet, der bis dahin gemütlich in den Tag gelebt hat. Wir werden immer älter und in der Tendenz immer länger potenziell pflegebedürftig. Das Gesundheitswesen hat damit kaum Schritt gehalten. Investiert wird zwar, aber oft und gern in beeindruckende Technologie, chromglänzende Apparaturen – aber kaum je in Menschen.
Es gibt für die Leute, die das entscheiden, auch keinen Blumentopf zu gewinnen. Wenn eine Regierung die Polizei ausbaut, wird gejubelt, weil damit das subjektive Sicherheitsempfinden wächst. Der Ausbau im Pflegebereich wird hingegen in erster Linie als Ausbau der Kosten gesehen. Solange jemand kommt, wenn man im Spitalbett die Glocke betätigt, wird alles seine Richtigkeit haben.
In einem im Nachhinein grenzenlos peinlichen Akt wurde das Pflegepersonal inmitten des ersten Coronajahres öffentlich beklatscht. Vielleicht hat es der eine oder die andere sogar als rührende Geste empfunden, die Lohnüberweisung fiel allerdings gleich hoch aus. Beziehungsweise gleich tief. Wie glaubwürdig ist es, wenn Politiker plötzlich ihr Herz für Pflegende entdecken und diese damit in erster Linie als Argument für Schutzmassnahmen missbrauchen? Immer wieder wurde die drohende Überlastung des Personals prognostiziert. Von Leuten, denen es bis dahin ziemlich egal war, wie gross diese Last ist.
Corona hat im Zusammenhang mit den schweren Erkrankungen natürlich zu einem Mehraufwand geführt. Aber nie in existenzbedrohender Weise. Gleichzeitig wurden Spitäler und Heime zu gespenstischen, seelenlosen Orten gemacht, Die rigide Besuchereinschränkung, Patienten bei der Vereinsamung zuzusehen, Verwandte, die sich in eine Art Raumschiffanzug quetschen mussten, um einen Sterbenden noch einmal zu sehen: Das alles hat ein ohnehin schon schwieriges Umfeld für viele Pflegende erst recht unerträglich gemacht.
Es wäre naiv zu glauben, die Pflege werde über Corona hinaus weiterhin so oft erwähnt und (mit Worten) so stark gewürdigt. Es hat kein generelles Umdenken stattgefunden. Die Pflege war einer der Hebel zur Durchsetzung der Massnahmen. Sie wird zurückkehren in die glanzlose Selbstverständlichkeit.
Der Applaus war kurz und heftig. Nachhallen wird er kaum.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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