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Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

Das schöne Bild der Schweiz erhält Flecken. Hohe Zuwanderung. Steigende Lebenskosten. Immer mehr Fälle von Armut. Fachkräftemangel. Gerät unser Land zunehmend in Schieflage? Eine Auslegeordnung von Thomas Baumann, die in den nächsten Tagen von Politikern kommentiert wird.

Thomas Baumann am 04. April 2024

Trotz aller Probleme: Es geht uns gut. Die Schweiz hat nach Japan die zweithöchste Lebenserwartung weltweit (mit Ausnahme kleinerer Territorien wie Hongkong, Macao, Monaco und Liechtenstein). Wir leben immer länger und sind immer länger gesund: Alleine in den letzten fünfzig Jahren hat die Lebenserwartung hierzulande um sagenhafte zehn Jahre zugenommen.

Wir zahlen die höchsten Löhne Europas, haben eine tiefe Staatsverschuldung und die Aktienmärkte sind auf Rekordniveau. Selbst die Inflation ist gezähmt, wie die jüngste Leitzinssenkung der Nationalbank belegt.

Entsprechend auch das subjektive Empfinden: Schweizerinnen und Schweizer gehören weltweit zu den glücklichsten Menschen – auch wenn die Schweiz im jüngsten «World Happiness Report» soeben einige Plätze eingebüsst hat.

Die nach wie vor rekordhohe Zuwanderung unterstreicht, dass es sich in der Schweiz ganz offensichtlich besser lebt als anderswo. Alles bestens also – haben wir nicht allen Grund, uns (selbst-)zufrieden zurückzulehnen?

Inflation der Probleme

Wer jedoch glaubt, in der Schweiz herrsche allerorten Friede, Freude, Eierkuchen, der hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Eben noch schallte es durchs Land: «Die Rente reicht nicht mehr» – durchaus erfolgreich, wie man feststellen konnte. Dafür wird jetzt die AHV-Kinderrente abgeschafft, weil einige Rentner davon «in Thailand wie ein Fürst» lebten.

Kaum war die 13. AHV-Rente beschlossene Sache, schreit uns auch schon die Titelseite der Pendlerzeitung «20 Minuten» entgegen: «Bauer zeigt sein Budget: ‹Es reicht nicht›». Und prognostiziert auch gleich: «Die Schweizer Bauernproteste werden immer grösser». Jedenfalls so lange, bis der Frühling Einzug hält und die Bauern wieder aufs Feld müssen.

Und noch etwas später reibt uns der Tages-Anzeiger die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter unter die Tränendrüsen, welche es sich mit dem Grundbedarf der Sozialhilfe nicht leisten kann, eine Gurke für zwei Franken zu kaufen.

Sorgen der Bevölkerung

Doch abgesehen davon: Worum sorgt sich die Bevölkerung wirklich? Ein guter Ansatzpunkt, um dies in Erfahrung zu bringen, ist das «Sorgenbarometer», welches das Forschungsinstitut gfs in Bern seit 1988 alljährlich für die Credit Suisse erstellt.

Im letzten Jahr (2023) stand das Gesundheitswesen an oberster Stelle der Sorgen, gefolgt vom Klimawandel und der Altersvorsorge.

Auch bei einer längerfristiger Betrachtung zeigt sich, dass die steigenden Krankenkassenprämien und die Sicherung der Altersvorsorge meist weit vorne in der Rangliste der grössten Sorgen auftauchen – komplettiert vom Thema Arbeitslosigkeit, welches jedoch in den letzten paar Jahren für die Bevölkerung offenbar stark an Relevanz verloren hat.

Während die Beziehungen zu EU und der Themenkomplex Zuwanderung/Personenfreizügigkeit ziemlich konstant im vorderen Mittelfeld rangieren, sind andere Themen deutlich zyklischer: Die Umwelt war noch zu Zeiten des medial gehypten sogenannten «Waldsterbens» in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts mit die Hauptsorge der Bevölkerung – verschwand dann aber in der Versenkung, bis das Thema mit dem Aufkommen der Diskussion um den Klimawandel seit 2019 eine Renaissance erlebte.

Finanzielle Sorgen an erster Stelle

Seit 1996 besetzen die Angst vor Arbeitslosigkeit und steigenden Krankenversicherungsprämien, sowie die Sorge um die Zukunft der AHV fast durchgehend die ersten drei Plätze im Sorgenbarometer der Bevölkerung.

Dies änderte sich erst ab 2012, als eine rund zehnjährige Periode unterdurchschnittlich steigender Krankenkassenprämien dazu führte, dass Befürchtungen im Zusammenhang mit der Zuwanderung die Angst vor Prämiensteigerungen aus den Top 3 der Sorgenliste verdrängten. Doch kaum steigen die Prämien wieder stärker, sind auch die manifestierten Sorgen sogleich wieder zurück.

Und geht es wirklich einmal hart auf hart, muss zwischen einer langfristigen Sicherung der Altersvorsorge und dem kurzfristigen Erhalt des Lebensstandards entschieden werden, dann gibt die Bevölkerung im Zweifelsfall letzterem den Vorrang. Die Abstimmung vom 3. März hat das eindrücklich unter Beweis gestellt.

Sinkende Reallöhne

Dies dürfte nicht zuletzt eine Folge von drei Jahren mit sinkenden Reallöhnen sein – es könnten auch vier Jahre sein, denn die Lohnentwicklung 2023 ist statistisch noch nicht ausgewertet. Dies führt dazu, dass die frei verfügbaren Mittel der Haushalte sinken – vor allem, wenn die monatlichen Fixkosten weiter steigen. Krisenstimmung ist garantiert.

Die «Kostenexplosion» im Gesundheitswesen wird dabei schon sein langem beklagt. Bereits im Zeitraum 1975-1995 wiesen die Gesundheitskosten ein jährliches Pro-Kopf-Wachstum von 7,1 (oder nach Abzug der Inflation: von 3,8) Prozent aus. Zu Beginn der 1990er-Jahre griffen Bundesrat und Parlament deshalb gar zu Notrecht, um dem Kostenanstieg Herr zu werden.

Aus heutiger Sicht wirken diese Probleme allerdings klein: Lag doch 1996 die Durchschnittsprämie Erwachsener im Standardmodell mit ordentlicher Franchise und Unfalldeckung noch bei 173 Franken. Heute sind es mehr als dreimal so viel: 554 Franken.

Gesundheitskosten verhageln das Haushaltsbudget

Welche Löcher ein Anstieg der monatlichen Fixkosten auf hohem Niveau ins Portemonnaie reissen kann, zeigt das folgende Rechenbeispiel: Eine Familie mit zwei Kindern. Verdienst: das Eineinhalbfache des Medianlohns von 6'788 Franken, also brutto 10'182 Franken pro Monat. Nach Abzug von Pensionskassen- und Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern verbleiben noch rund 8'000 Franken monatlich. Die Wohnungsmiete betrage derzeit 2'000 Franken und die Krankenkassenprämie der zwei Erwachsenen und zwei Kinder entspreche genau der mittleren Prämie, wie sie das Bundesamt für Gesundheitswesen ermittelt.

Die statistischen Eckdaten: Die Krankenkassenprämien haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren verdoppelt, die Mieten sind um dreissig Prozent gestiegen, die Bruttolöhne um zwanzig Prozent und der Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) um zwölf Prozent.

Nach Abzug der monatlichen Fixkosten für Miete und Krankenkasse verbleibt derzeit noch ein mehr oder weniger frei verfügbarer Betrag von 4'900 Franken pro Monat (mittlere Spalte der untenstehenden Tabelle):

Tabelle

Rechnet man die verschiedenen Positionen mit den angegebenen statistischen Eckdaten zwanzig Jahre zurück, so kommt man auf ein frei verfügbares Einkommen von 4'580 Franken im Jahr 2004 (linke Spalte der obenstehenden Tabelle). Der Anstieg des frei verfügbaren Einkommens von 320 Franken, oder nominal acht Prozent, vermag dabei den allgemeinen Preisanstieg gemäss LIK nicht auszugleichen. Der Haushalt ist in diesem Zeitraum real ärmer geworden.

Fixkosten wachsen und wachsen

Extrapoliert man die Werte des Jahres 2024 mit den angegebenen statistischen Eckdaten zwanzig Jahre in die Zukunft, so ergibt im Jahr 2044 ein frei verfügbares Einkommen von 4'800 Franken (rechte Spalte in der obenstehenden Tabelle). Dies ist sogar nominal weniger als 2024 – von einem Ausgleich der Inflation schon gar nicht zu sprechen.

Wer jetzt glaubt, das Problem seien Preissteigerungen bei Miete und Krankenkassen, der irrt: Würden die Krankenkassenprämien im Gleichschritt mit der Miete ebenfalls um dreissig Prozent (auf 1430 Franken) steigen, dann verbliebe im Jahr 2044 immer noch ein frei verfügbares Einkommen von 5570 Franken im Jahr – 670 Franken oder nominal 13,7 Prozent mehr als 2024.

Es sind genau solche Fixkostenblöcke mit überproportionaler Preissteigerung, welche den Familien das Haushaltsbudget verhageln. Ein Teufelskreis: Je stärker die Krankenkassenprämien steigen, desto höher deren zukünftiger Anteil am Budget und desto stärker schlagen zukünftige Preissteigerungen durch. Es ist quasi der Zinseszins-Effekt mit umgekehrten Vorzeichen.

Wie weiter?

Der Mittelstand steckt also absehbar in einer Finanzklemme, gleichzeitig treten neue Begehrlichkeiten auf: Nach den AHV-Rentnern möchten auch IV-Rentner eine 13. AHV-Rente, neben dem absehbaren AHV-Defizit sollen auch der Wideraufbau der Ukraine finanziert und die Rüstungsausgaben gesteigert werden, die Zukunft der bilateralen Verträge mit der EU ist wie immer offen.

Woher soll das Geld kommen, um all die verschiedenen – und alle auf ihre Art gerechtfertigten – Begehrlichkeiten zu befriedigen und wo muss man gegebenenfalls Abstriche machen? Dieser Frage soll in einer Serie von Gastbeiträgen nachgegangen werden.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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