Viel zu lange wurde der Einfluss des Vaters für die Entwicklung des Kindes ausser Acht gelassen. Für die Herausbildung der Identität ist die Beziehung zur Mutter und zum Vater gleichermassen von Bedeutung. Ein Denkanstoss der Psychologin und Autorin Julia Onken.
Für das Mädchen ist der Vater Vertreter der männlichen Welt, mit ihm lernt es das Gegengeschlecht kennen. Es macht die ersten prägende Erfahrungen, ob sich ein Mann für sein Leben interessiert und es von ihm Resonanz erhält. Es erlebt, ob ein Mann verlässlich ist. Ist er vertrauenswürdig, kann er das Kind beschützen? Wenn aber der Vater dem kleinen Mädchen wenig Interesse entgegenbringt, von ihm nur mangelhaft oder überhaupt nicht beantwortet wird, heisst das für das Kind: Ich bin es eben nicht wert, ich bin uninteressant für die männliche Welt.
Da es aber ein Grundbedürfnis ist, geliebt, beachtet, wertgeschätzt und anerkannt zu sein, werden nun Strategien entwickelt, um das zu erreichen, was aus tiefster Seele gewünscht wird.
Das Kind wird den Vater genau beobachten, um herauszufinden, was seine Aufmerksamkeit weckt. So wird ihm nicht entgehen, dass es bestimmte Themenbereiche und Personen sind, die ihn erfreuen und in ihm Anteilnahme und vielleicht sogar Enthusiasmus auslösen. Selbstverständlich findet das alles auf einer völlig unbewussten Ebene statt.
Es gibt Väter, die sind vor allem im sportlichen, intellektuellen, handwerklichen oder künstlerischen Bereich zu begeistern vermögen. Das kleine Mädchen wird es sich hinter die Ohren schreiben: Ich leiste, also bin ich. Nicht selten erfolgt aus Vaters Vorliebe die spätere Berufswahl, was dazu führt, dass Frauen mit 30 das Gefühl haben: Ich sitze eigentlich im falschen Film. Springt der Vater vor allem auf weibliche Attraktivität an, wird das Mädchen eher auf diese Karte setzen: Ich gefalle, also bin ich. Eine weitere Möglichkeit, dem Vater Aufmerksam abzuringen, besteht in der Konfrontation. Sie fordert ihn mit für ihn oft schwer zu verdauenden Thesen oder mit ihrem Verhalten heraus: Ich spüre Widerstand, also bin ich.
In der Partnerwahl wiederholt sich oft das Grundmuster. Schliesslich sind es die heimatlichen Glocken, die da bimmeln und die für die Wahl des zukünftigen Partners mitverantwortlich sind. Im Laufe der Beziehung pflastern oft jene altbekannten Sätze das Krisenfeld, indem die Frau ihrem Partner vorwirft: Du interessierst Dich eigentlich nicht für mich. Du weisst gar nicht, wer ich bin.
So löffelt der Mann aus, was der Tochter-Vater einst versäumt hat.
Über die Autorin Julia Onken
Julia Onken (1942) ist international bekannte Psychologin, Schweizer Buchautorin, Feministin und Gründerin des Frauenseminars Bodensee in Romanshorn. Nach einem Psychologiestudium bildete sie sich in personenzentrierter Gesprächspsychotherapie, analytischer Paartherapie und Sprachtherapie weiter. Nach dem Abschluss arbeitete sie im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe, als Dozentin in der Erwachsenenbildung und eröffnete eine eigene psychotherapeutische Praxis. 1987 gründete sie das Frauenseminar Bodensee (FSB), 1998 den Verein «Bildungsfonds für Frauen», den sie seither als Präsidentin führt. Seit 1987 ist sie als Schriftstellerin tätig; ihre Sachbücher und Ratgeber liegen in zahlreichen Übersetzungen vor und wurden bis heute weit über eine Million Mal verkauft.
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