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Theaterkritik

Die «Wüstenblume» blüht auch als Musical

Das Theater St.Gallen hat mit der Welturaufführung von «Wüstenblume» ein kleines Wunder geschafft: Das Leben von Waris Dirie zwischen traumatischer Beschneidung als Mädchen und erfolgreicher Model-Karriere als Frau ist authentisch inszeniert.

Roger Tinner am 24. Februar 2020

Nicht zum ersten Mal beweist St.Gallen, dass es im Musical auch mit einem dramatischen Stoff unaufgeregt umgehen und ihn dem Publikum mit einem hervorragend ausgewählten Cast überzeugen kann. Nachdenklichkeit wie eine begeisterte «Standing Ovation» am Ende gehörten folgerichtig zur Weltpremiere am Samstag in St.Gallen, an der auch Waris Dirie selbst anwesend war.

Selbst von der St.Galler Bühne und Intendanz überzeugte Musical-KennerInnen waren im Vorfeld skeptisch: Würde es gelingen, das von ihrem gleichnamigen Bestseller und einem Film schon bekannte Leben der somalischen Nomadentochter Waris Dirie in ein Musical zu «übersetzen», ohne in die Fallen von Überhöhung oder kitschiger Vereinfachung zu tappen? Immerhin geht es um eine gleichzeitig zerbrechliche wie starke Frau, die vor einer Zwangsverheiratung in Somalia flieht und in London zum Topmodel und später zur Vorkämpferin und UN-Sonderbotschafterin gegen die weibliche Genitalverstümmelung wird. Und an solchen Stoffen können auch sehr gute KomponistInnen, AutorInnen und DarstellerInnen scheitern – und man darf sich auch fragen, ob eine Inszenierung in der Schweiz nicht als ungebührliche «Aneignung» oder «Bewertung» eines in Afrika beginnenden NomadInnenlebens bedeuten könnte.

St.Gallen – der richtige Ort

Dass dieses Musical von Uwe Fahrenkrog-Petersen (Musik) und Gil Mehmert (Buch und Regie) ausgerechnet in St.Gallen Weltpremiere feiert, ist keine Überraschung. Jedenfalls gibt es kaum irgendwo in Europa ein Haus, das so konsequent neue Stoffe sucht und so stark auf Eigenproduktionen setzt. Direktor Werner Signer kopiert nicht andere Musicalstandorte, die auf Adaptionen bewährter Broadway- oder Westend-Stücke setzen (auch wenn es das eine und andere auch hier zu sehen gibt). St.Gallen geht den anspruchsvollen Weg, und zwar mit einer Theater-Mentalität, wie Operndirektor Peter Heilker nach der Premiere selbst bestätigte: Grosse Wirkung auch mit «einfachen» Mitteln der Inszenierung und Choreografie erzielen, etwa mit Video-Effekten, durchscheinenden Vorhängen oder selbst ulkigen Details wie zwei Tänzern, die eine Toilette mit je einem Waschbecken in ihrer Hand «markieren». Dass für aufwändige Spezialeffekte, wie sie in reinen Musicaltheatern üblich sind, Finanzen wie Bühnengrösse zu klein geraten sind, bringt mehr Kreativität in die Inszenierung.

Wüstenblume

Waris Dirie. (Bild: Andoni Lopez)

«Wüstenblume» ist bereits die sechste Uraufführung innerhalb von elf Jahren, und es ist – so sehr auch «Der Graf von Monte Christo», «Moses – Die 10 Gebote», «Artus – Excalibur», «Don Camillo & Peppone» und «Matterhorn» gelobt wurden – die anspruchsvollste und gelungenste, ohne damit die anderen abwerten zu wollen. Sie steht am Ende einer Entwicklung, die St.Gallen als Musical-Pionier-Standort positioniert (auch wenn wir «Einheimische» das weniger merken als das Publikum, das von auswärts anreist): Dass St.Gallen (und wohl nur St.Gallen) das Wagnis dieses Stoffes eingehen konnte, hat damit zu tun, dass hier langjährige Erfahrung mit Uraufführungen besteht, dass Musical hier nicht die einzige Sparte ist, und dass es hier Verantwortliche gibt, die jeweils die passenden Menschen – von der Komposition über Regie, Bühnenbild, Choreografie bis hin zum Cast – zusammenbringt.

Achtsam, authentisch, aufrüttelnd

Die Geschichte wird in rund 30 Szenen erzählt, eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der ein Film über die Rückkehr von Waris Dirie nach Somalia und die Suche nach ihrer Mutter gedreht wird. Die chronologische Erzählung ihres Lebens beginnt mit der Flucht aus Somalia nach London und endet mit einer Ansprache als UNO-Sonderbotschafterin, unterbrochen von Rückblenden und Einschüben zum Trauma der Genitalverstümmelung, die Waris selbst erleben musste und die sie erst im Dialog mit ihrer neuen Freundin Marilyn in London als «nicht normal» erkennt. «So wirst du Frau», das Duett von Waris (Kerry Jean) und Marilyn (Dionne Wudu), ist inhaltlich wie musikalisch und textlich der Höhepunkt vor dem Pausenvorhang. Ihre ersten Schritte als Model, die Scheinheirat zur Lösung ihrer Probleme als nicht gemeldete Aufenthalterin und schliesslich der Erfolg in der Modewelt prägen den zweiten Teil. Beim Catwalk (der in den Zuschauerraum hinaus geht) kommt es zum «Flashback», der die ganze Traumatisierung einzigartig einfach und überzeugend zugleich inszeniert. Am Ende steht eine gesungene Rede unter dem Titel «Achttausend», das die ZuschauerInnen mit der Anzahl der täglich verstümmelten Mädchen aufgerüttelt nach Hause schickt.

Wüstenblume

Die Stärke der gesamten Botschaft lässt die einzelnen Charaktere vielleicht zurücktreten, ihre Stimmen und Auftritte sind jedoch beachtlich. Insbesondere die Hauptdarstellerinnen Naomi Simmonds (die junge Waris), Kerry Jean (die erwachsene Waris), Terja Diava (Mutter, Tante) und Dionne Wudu (Marilyn, Hexe) überzeugen mit ihren Stimmen, die authentisch zwischen Stärke und Zerrissenheit brillieren. Überhaupt wirkt Kerry Jean, als stünde Waris Dirie selbst auf der Bühne und sänge selbst ihren Part. Auch die Männerstimmen überzeugen in diesem Cast, ihnen sind aber (für einmal und zurecht) Nebenrollen zugedacht, denn in diesem Musical wird die Frau nicht von einem Prinzen angebetet oder gerettet – sie rettet sich selbst! Erwähnung verdient haben jedoch insbesondere Susanne Panzner als Modelagentur-Chefin und Jogi Kaiser, den man aus dem Deutschen Fernsehen oder vom Langzeit-Musical «Heisse Ecke» in Hamburg kennt. Er gibt den Schein-Ehegatten O’Sullivan, dem niemand, aber auch wirklich gar niemand im Saal diesen Solo-Auftritt zugetraut hätte. Sein Szenenapplaus fiel – zurecht! – so gross aus wie für die Hauptdarstellerin.

Kein Stück nur für eine Spielzeit

Wer will, findet natürlich auch das eine oder andere Detail, das man kritisieren könnte: Zu Beginn ein nicht ganz ausgewogen gemischter Ton mit zu leisen Stimmen, da und dort ein Ausblenden, das zu abrupt schien, und ein Marilyn-Monroe-Song, dessen Sinn im Aneinanderreihen von Filmtiteln dieser Diva zu bestehen schien. Das sind jedoch Kleinigkeiten im Vergleich zur Gesamtwirkung. Die überzeugt nämlich sehr. Uwe Fahrenkrog-Petersen Musik, von Alberto Mompellio orchestriert und von Koen Schoots arrangiert, trifft den Ton der pop-rockigen Achtziger in London so perfekt wie ihn die Wüstenblume-Band live spielt. Und er vermengt es ganz subtil mit afrikanischen Rhythmen und Vibes, ohne dabei die «König der Löwen»-Taste zu drücken.

Schwer zu sagen, ob ein Song wirklich zum «Ohrenwurm» werden könnte, am ehesten wohl der Titelsong «Wüstenblume». Das ist aber auch nicht entscheidend für dieses Musical, dass von der Story getragen wird, nicht von einem einzelnen Song – überzeugend ist jedoch die Vielfalt der Musikstile, bis hin zum Tango. Einzigartig wird dieses Musical jedoch durch das unglaublich präzise Zusammenspiel von Musik, Stimmen, Bühnenbild, Kostümen, Licht, Ton, Video und Choreografie (mit oft verblüffender Wirkung). Die St.Galler «Wüstenblume» blüht auch als Musical. Sie ist ein Gesamtkunstwerk, das überzeugt und – das zeigt die grosse Ticketnachfrage schon jetzt – kein Stück nur für eine Spielzeit. Der von Herzen kommende Jubel an der Premiere dürfte am Anfang einer Erfolgsgeschichte stehen.

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Autor/in
Roger Tinner

Roger Tinner, zunächst als Journalist und später als Mediensprecher der HSG tätig, berät heute mit der alea iacta-Gruppe Unternehmen und öffentliche Hand in Strategie und Kommunikation. Ausserdem führt er verschiedene Verbände (u.a. Werbeclub und WISG), bloggt als «Digiimmi» über Digitales aus dem Alltag und schreibt Bücher zu KMU-Themen.

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