Es gilt als wenig schicklich, Todesopfer aus verschiedenen Altersgruppen gegeneinander aufzurechnen, weil hinter jedem Fall ein individuelles Schicksal steckt. Doch wenn Massnahmen die gesamte Gesellschaft betreffen, bleibt nichts anders übrig, um die Verhältnismässigkeit aufzuzeigen.
Früh wurde klar, dass das Coronavirus eine Sache ist, die vor allem älteren Menschen in Verbindung mit bestimmten Risikofaktoren schwer zu schaffen macht. Ausnahmen von der Regel gibt es immer, aber die klare Definition einer Risikogruppe hilft, die geeigneten Massnahmen zu treffen. Verkürzt gesagt: Es gab im Grunde nie Zweifel daran, dass die Menschen, die sich vor einer schweren Erkrankung oder einer möglichen Todesfolge fürchten müssen, zu einer bestimmten Gruppe gehören.
Im Zug der Bemühungen, die weitreichenden Massnahmen wie Maskenpflicht, geschlossene Restaurants, an Personen limitierter Zugang zu Läden und Einschränkungen zu legitimieren, ist diese Risikogruppe seit längerem kaum mehr ein Thema. Sie wurde ja ironischerweise auch zu keinem Zeitpunkt wirklich effektiv geschützt. Es war wichtiger, der gesamten Bevölkerung einen Schrecken einzujagen. Das Virus, das es auf alte Menschen abgesehen hat: Das ist, pardon für den Ausdruck, marketingtechnisch kein Heuler. Nicht einmal in einer tendenziell überalterten Gesellschaft.
Inzwischen verlagert sich die Debatte deshalb auf neue Personenkreise. Die Coronapatienten im Spital seien immer jünger, wurde kolportiert, Kinder würden sich – wenn nicht bald auch geimpft – scharenweise anstecken. Und jeder Fall eines «mittelalterlichen» Menschen, der an oder mit Corona verstorben ist, wurde medial verbreitet, so dass inzwischen jeder 40-Jährige überzeugt ist, der Tod lauere hinter der Haustür. Und dann wurde noch «long covid» aus dem Hut gezaubert. Menschen ausserhalb der Risikogruppe leiden demnach noch lange unter Spätfolgen der Erkrankung. Wobei der Begriff «lange» ziemlich relativ ist, wie Studien gezeigt haben.
Wer diese Geschichtserzählung aufbaut, muss bei aller Ethik damit leben, dass man die entsprechenden Zahlen unter die Lupe nimmt, um sie ins richtige Verhältnis auszusetzen. Aktuell sieht es so aus:
Die Zahlen stammen von Wikipedia. Dessen Autor Stephan Sembinelli hat sie auf der Basis der neuesten Erhebungen des Bundesamts für Gesundheit dort eingepflegt. Es sind also offizielle Zahlen. Und wie erwähnt, keine Frage. Was hier als nüchterne Nummern daherkommt, ist stets verbunden mit einzelnen Schicksalen, mit trauernden Angehörigen. Dennoch ist es wichtig, sich vor Augen zu führen: Diese Statistik belegt, was wir eigentlich immer wussten, in den vergangenen Monaten aber verwedelt wurde von den Aussagen von Task Force und Co: Dieses Virus trifft in erster Linie Leute über 60 Jahre. Nicht, dass diese kein Recht hätten, älter zu werden. Aber die Zahlen korrespondieren nicht mit der Angstmacherei, wonach Corona oder seine Mutationen aktuell immer jüngere Menschen ins Visier nehmen. Wer das behauptet, will keine Aufklärung betreiben, sondern hat politische Ziele.
Mehr als 90 Prozent der Todesfälle betreffen Menschen von 70 Jahren und älter. Nicht einmal 2,5 Prozent gehen an Personen von 50 und weniger Jahren. Und zur Präzisierung: Die Statistik belegt Todesfälle von Menschen, die zum Zeitpunkt des Todes positiv getestet waren, es ist nicht belegt, dass das Virus die Todesursache war oder zu dieser beigetragen hat. Wir kennen die Vorgeschichte der Menschen aus dieser Statistik nicht.
Eine Gesellschaft muss alle schützen, auch die Älteren. Mit einem vertretbaren und verhältnismässigen Aufwand. Das Wissen darum, wer aufgrund von Alter und allgemeinem gesundheitlichen Befinden besonders gefährdet ist, ist von hohem Wert. Es ermöglicht, das Augenmerk gezielt auf ihren Schutz zu legen. Wobei auch einmal mehr festzuhalten ist, dass man niemanden zwingen kann, sich durch staatliche Vorgaben schützen zu lassen. Ein 90-Jähriger, dem es wichtiger ist, seine Enkel regelmässig zu sehen und zu umarmen, soll dieses Recht haben. Es ist im höchsten Mass unethisch, es ihm zu versagen, denn er setzt seine eigenen Prioritäten. Und in vielen Fällen wäre diese Priorität wohl klar gewesen.
Denn nach 90 durchlebten Jahren allein in einem Spital zu sterben, umringt von Menschen in Schutzanzügen, unfähig, seine Liebsten noch einmal zu sehen: Das ist kaum der Herzenswunsch aller. Sondern eher ihr ganz persönlicher Albtraum.
Rund 10'000 Todesfälle, die wir bezüglich dem Anteil des Virus am Tod nicht abschliessend einordnen können, werden in dieser Statistik aufgeführt. Weit über 9000 davon über 70 Jahre alt. Wie viele Menschen, die in dieser Zeit an ganz anderen Ursachen gestorben sind, hatten nicht die Möglichkeit zu einem Abschied in Würde im Kreis ihrer Liebsten?
Man kann diese Zahlen nicht gegeneinander aufrechnen. Aber man kann festhalten: Wenn die eingeleiteten Massnahmen überflüssig waren und nichts bewirkt haben, kommt eine unsichtbare Statistik zur Anwendung. Die der Menschen, die unnötigerweise unter den Massnahmen gelitten haben. Auch dort ist die Zahl der Älteren signifikant vertreten. Sie wurden, gewollt oder nicht, vom gesellschaftlichen und familiären Leben ausgeschlossen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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