Die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle beschäftigt die Industrieunternehmen. Laut Jean-Philippe Kohl, Swissmem-Direktor a.i., und Matthias Weibel, Geschäftsführer des Raiffeisen-Unternehmerzentrums RUZ, sollten KMU die Gunst der Stunde nutzen und jetzt in Industrie-4.0-Vorhaben investieren.
Nutzen Schweizer Industrie-KMU die Chancen, welche die Digitalisierung bietet?
Jean-Philippe Kohl: Ja, das tun sie. Unsere Industrie ist ja seit jeher stark dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt und deshalb höchst innovationsfähig. Die Digitalisierung ist eine Chance, um «Smart Products and Services» und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Auch KMU sollten die Gunst der Stunde für Investitionen jetzt nutzen.
Matthias Weibel: Die KMU machen sich viele Gedanken über ihre Wettbewerbsfähigkeit. Aber nicht immer ist es einfach: Zulieferfirmen beispielsweise, die kein eigenes Produkt haben, müssen ihren Kunden einen Zusatznutzen bieten. Wie können sie ihren Kunden höchste Flexibilität bei der Fertigung von Hochpräzisionsteilen in unterschiedlichen Mengen und Ausführungen bieten? Mit solchen und ähnlichen Fragestellungen beschäftigen sich Industrie-4.0-Projekte.
Wer ist vom Wandel betroffen?
Kohl: Die Digitalisierung betrifft alle Betriebe. Vor einigen Jahren stand bei den Unternehmern dabei die Effizienzsteigerung in der Wertschöpfungskette im Vordergrund: Durch den Frankenschock mussten sie die Kosten senken. Heute setzen die Betriebe deutlich mehr auf Lösungen, die zusätzlichen Kundennutzen bringen. Sogar sehr traditionelle Betriebe haben erkannt, dass die Technologie ihnen helfen kann, die Produktion in der Schweiz zu rechtfertigen.
Weibel: Auch kleinere und mittlere Industrieunternehmen können profitieren: Dank der Vernetzung über Ländergrenzen hinweg können sie sich weltweit viel besser positionieren und mit ihren Kunden viel enger zusammenarbeiten, als dies früher der Fall war. Dank der digitalen Möglichkeiten können Geschäftsbeziehungen heute so ausgestaltet werden, dass sie über das normale Kunden-Lieferanten-Verhältnis hinausgehen und für beide Parteien einen höheren Gegenwert mit mehr Volumen und höheren Margen bieten.
Was brauchen KMU, damit Industrie 4.0-Vorhaben gelingen?
Kohl: Wichtig ist es, den Einstieg zu finden. Das Quickstartertool auf www.industrie2025.ch bietet dabei eine wertvolle Hilfe. Dort, wo es Sinn ergibt und Nutzen bringt, gilt es dann, die Digitalisierung Schritt für Schritt voranzutreiben. Dafür braucht es einen offenen Geist und die richtigen Leute.
Weibel: Der Einstieg erfolgt in vielen Fällen über die Optimierung der Prozesse. Allerdings ist es wichtig, dass Industrie 4.0 nicht als technologiegetriebene Herausforderung, sondern als unternehmerische Gestaltungsaufgabe angesehen wird. Ich teile die Meinung von Jean-Philippe Kohl: Es braucht zuallererst eine Vision und Strategie, wie Wertschöpfung und Leistungsangebot für den Kunden verbessert werden können. Zur konkreten Umsetzung ihrer Projektideen brauchen KMU personelle und finanzielle Ressourcen. Es ist entscheidend, dass sie gut ausgebildete Fachkräfte – auch aus dem EU-Raum – rekrutieren können. Und es braucht Fremdkapitalgeber und Investoren, die die Chancen von Digitalisierungsprojekten erkennen.
Was ist also der erste Schritt für ein KMU?
Kohl: Es gibt kein Patentrezept, denn jeder Betrieb ist anders. Ganz wichtig ist, dass die Basis stimmt. Wenn man einen schlechten Prozess digitalisiert, ist der Prozess danach nicht besser.
Weibel: Ein (kostenloses) Unternehmergespräch im RUZ erachte ich als guten ersten Schritt. Wenn ein Unternehmen die Relevanz der Digitalisierung für die eigene Wettbewerbsfähigkeit und Zukunft erkannt hat, lohnt sich eine saubere Auslegeordnung der Ist-Situation und zu den weiteren Vorgehensschritten. Beim RUZ arbeiten alles ehemalige Unternehmer aus der Industrie und dem Gewerbe, welche Industrie-4.0-Projekte aus eigener Erfahrung kennen.
Und welche Fehler machen KMU häufig?
Weibel: Sie überlegen nur, welche neuen Technologien sie einsetzen wollen, statt sich grundsätzliche Gedanken über ihr Geschäftsmodell zu machen. Und sie schaffen im Betrieb keinen kulturellen Nährboden, der Innovationen fördert. Industrie 4.0 muss man machen, man kann sie nicht einfach einkaufen und das Thema auf diese Weise «erledigen».
Kohl: Ich erlebe auch oft, dass Industrie-4.0-Vorhaben an der Finanzierung scheitern. Viele Unternehmer sagen, dass sie die Bank vom Mehrwert einer solchen Investition nicht überzeugen konnten.
Weibel: Wie immer bei Investitionen in die Zukunft kommt dem Finanzierungsmix eine hohe Bedeutung zu – hier lohnt sich eine schlaue Vorgehensweise. Wir können Unternehmer bei der Entwicklung von Businessplan und Kreditantrag für ihre Projekte unterstützen.
Warum aber zögern Banken bei der Vergabe von Krediten für Industrie-4.0-Projekte?
Weibel: Weil bei vielen Bankinstituten das Wissen über Industrie 4.0 und der Risikoappetit auf neue Geschäftsmodelle ihrer Kunden manchmal fehlt. Wir vom RUZ begleiten den Unternehmer ganz nahe bei der Umsetzung seines Projektes, inklusive Finanzierung. Manchmal limitieren sich die Unternehmer aber auch selber, weil sie denken, die Bank finanziere das Projekt sowieso nicht. Da lohnt sich ein Versuch!
Kohl: KMU-Unternehmer müssen noch besser verstehen, welche Zahlen und Fakten die Bank braucht, um eine Kredit bewilligen zu können. Wichtig ist, dass der Unternehmer seinen Banker mit einer glaubwürdigen und datenbasierten Geschichte und den zukünftigen Cashflows überzeugen kann.
Weibel: Einem KMU empfehle ich, den Bankberater durch seinen Betrieb zu führen, den Nutzen der Investition zu erklären und ihn für die Idee zu begeistern. Im Falle der 3D Precision SA in Delémont etwa ist uns das gut gelungen: Die Raiffeisenbank hat die Wachstumsstrategie des Unternehmens mitfinanziert.
Jean-Philippe Kohl ist Direktor a.i. und Mitglied der Geschäftsleitung von Swissmem. Der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie ist einer der drei Träger der Initiative «Industrie 2025», welche die Umsetzung von Industrie 4.0 insbesondere bei KMU unterstützt.
Matthias Weibel ist Geschäftsführer des Raiffeisen-Unternehmerzentrums RUZ. An fünf Standorten in der Schweiz berät und begleitet er mit seinem Team aus Begleitern und Experten Unternehmer auf Augenhöhe, von der Gründung bis zur Nachfolge. Das RUZ sieht sich auch als Bindeglied zwischen Unternehmern und Bank und vereint praktische Industrie- und Finanzierungskompetenz unter einem Dach.
RUZ und Swissmem bündeln Kompetenz
Seit Oktober 2018 unterstützen sich das Raiffeisen-Unternehmerzentrum RUZ und Swissmem gegenseitig bei der Förderung von Industrie-4.0-Projekten in der Schweiz. Sie bündeln Wissen, schliessen Wissenslücken aufseiten der Banken und der Unternehmer, planen gemeinsame Veranstaltungen und ebnen damit den Weg für Fremdfinanzierungen bei Industrie-KMU.
Hilfe für KMU
Auf www.industrie2025.ch stellen die Initianten Swissmem, swiss T.net und asut ein hilfreiches Quickstarterangebot zur Verfügung. In einem kostenlosen Unternehmergespräch bei einem der fünf RUZ erhalten Unternehmer zudem praktische Unterstützung bei der Umsetzung.
Anina Torrado erarbeitet Kommunikationskonzepte und Inhalte für Medien, Magazine, Blogs, Webseiten oder andere Kommunikationsmittel. Ihr Unternehmen hat den Sitz in Appenzell.
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