Alle überschlagen sich mit Prognosen für die nationalen Wahlen vom 20. Oktober. Wir schlagen den umgekehrten Weg ein und verraten Ihnen, was mit Sicherheit an diesem entscheidenden Tag nicht eintreten wird.
Und das sind die Top 10 der Nicht-Wahlereignisse. Lesen Sie hier, was sie definitiv nicht erwarten dürfen:
1. Ehrliche Reaktionen der Verlierer
Ja, wir haben Mist gebaut, und es ist uns völlig zu recht passiert: Nein, das werden wir nicht hören. Seien Sie versichert: Die Parteien, die unterliegen, werden nicht reumütig vor die Mikrofone kriechen und erklären, dass sie untaugliche Rezepte hatten, miserable Kandidaten aufgestellt haben und das Ganze auch noch schlecht verkauft haben. Stattdessen werden sie uns mitteilen, warum man sie eigentlich hätte wählen müssen, wieso nun alles schlechter wird und dass die Wähler ihre glasklaren und sehr sinnvollen Vorschläge einfach nicht verstanden haben.
2. Zurückhaltende Sieger
Den Sieg still geniessen, Grösse vor dem Verlierer zeigen, Bescheidenheit üben. Das soll es alles geben, aber leider nicht bei Wahlen. Denn man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Also: Ein halbes Prozent mehr Wähleranteil als 2015? Was für ein Triumph, was für ein klares Verdikt der Wählerschaft! Der Sieg ist überaus verdient, eigentlich sogar überfällig, und nun wird alles besser. Und die anderen haben endlich ihre verdiente Quittung erhalten. Ha!
3. Diskrete Politiker
Man geht ins Wahlzentrum, um sich aus erster Hand über die Resultate zu informieren? Das mag auf Otto Normalverbraucher zutreffen, nicht aber auf Kandidaten und Parteipräsidenten. Betreten die den Raum, schauen sie zuerst, wo die Medien sitzen und tigern danach stundenlang vor den vor sich hin tippenden Journalisten herum in der Hoffnung, dass die eine Frage haben. Jedenfalls, bis bekannt wird, dass sie die Wahl verloren haben, dann muss man sie suchen. Aber noch schlimmer sind ehemalige Politiker. Sie kriechen aus der selbstgewählten oder erzwungenen Höhle der Bedeutungslosigkeit. Denn für sie ist das eine einmalige Chance: Gewinnt ihre Partei, jubeln sie mit, verliert sie, können sie darauf verweisen, dass das zu ihrer Zeit nie passiert wäre.
4. Junge Zuschauer
Die Jugend ist die Zukunft, deshalb strömt sie in Scharen in die Wahlzentren, um zu sehen, in welche Richtung das Land geht! - Oder auch nicht. Der Altersdurchschnitt an den Kulminationspunkten der Ereignisse ist grob geschätzt 75 (die Kandidaten tragen dazu bei), denn an einem verregneten Sonntag ist das noch das beste Programm, wenn der bunte Abend in der Altersresidenz nicht stattfindet. Nicht wenige derjenigen, die das Spektakel live verfolgen, erleben die danach folgende Legislatur vermutlich nicht mehr in voller Länge.
5. Alles wie am Schnürchen
Die Staatskanzleien der Kantone geben sich vor Ort grösste Mühe, lückenlos über Zwischenresultate und das Endergebnis zu informieren, und das mit modernster Technologie. Aber meist stolpert ein Fotograf über ein Kabel, ein nervöser Kandidat schüttet Orangensaft über den Beamer oder es geht sonst was schief. Wer sich jemals über die Wartezeiten bei der Post oder im Europapark beklagt hat, sollte am Sonntag ein Wahlzentrum besuchen: Man starrt nicht selten eine Stunde dieselben Balkendiagramme an in der Hoffnung, dass sie sich irgendwann bewegen.
6. Alle Gemeinden machen Tempo
Die Stimmen werden in den Gemeinden ausgezählt. Die gehen diese Aufgabe mit sehr unterschiedlichen Ambitionen an. Es gibt Gemeinden, deren Stimmberechtigte in einem durchschnittlichen Wohnzimmer Platz hätten, aber sie benötigen vier Stunden, um das Resultat zu ermitteln und zu übermitteln. Woran das liegt, ist bis heute unklar. Möglicherweise wollen sie damit einfach signalisieren, dass auch Kleine wichtig sind. Denn solange ihr Resultat nicht kommt, gibt es kein Endergebnis zu verkünden.
7. Demütige Journalisten
Klar, am Tag danach wollen alle lesen und hören, was geschehen ist, aber am Wahltag selbst interessiert sich niemand für uns Medienschaffende, die im St.Galler Pfalzkeller oder im Wahlzentrum in Frauenfeld herumstiefeln. Wir sind Nebenakteure, und der Rest der Anwesenden hat keine Ahnung, um wen es sich eigentlich handelt. Das scheinen wir selbst aber nicht zu merken. Gockelhaft marschieren wir auch dann, wenn noch gar nichts passiert ist, durch den Raum und prüfen mit einem aufgesetzten Kennerblick die ersten eingeblendeten Grafiken (bei denen es sich noch um ein Testbild handelt). Dass ein Medium möglichst viele Leute abdelegiert, lässt übrigens keine Rückschlüsse auf die nachfolgende Berichterstattung zu, weder qualitativ noch quantitativ. Wir Journalisten sind einsame Leute, wir haben an einem Sonntag einfach nichts Besseres zu tun. Ausser im Fall der SRG, die schickt immer aus Prinzip 50 Mitarbeiter.
8. Alles läuft völlig spontan ab
Die Wahlresultate sind nicht mal von Mike Shiva vorherzusagen, also bereitet sich auch keiner der Protagonisten darauf vor, oder? Ganz ehrlich: Kandidaten, Parteipräsidenten und vor allen Dingen Wahlprognostiker bereiten im Vorfeld sorgfältig ihre Reaktion auf jeden möglichen Ausgang vor. Die schwierigste Aufgabe besteht darin, bei Interviews den richtigen Zettel aus der Jackentasche zu fischen und nicht versehentlich eine Niederlage zu begründen, nachdem man gewonnen hat. Bei den Experten geht es vor allem darum, dass sie aus dem Stand erklären können, warum sie dermassen daneben gehauen haben. Gerüchten zufolge üben sie das vorab in einer geheimen Gruppe gemeinsam mit Meteorologen.
9. Es gibt rauschende Wahlpartys
Wenn man gewinnt, muss man das begiessen, wenn man verliert, muss man es mit Hilfe von Alkohol vergessen, also muss in jedem Fall gefeiert werden. Falls Sie das denken und nur schon aus diesem Grund mit dem Beitritt zu einer Partei liebäugeln, raten wir ab. Die «Wahlpartys» sind für Leute, die echte Partys kennen, eine sehr beschauliche Angelegenheit. Erstens schauen immer wieder Journalisten vorbei, da kann man sich auch nicht nach einem rauschenden Sieg die Kante geben und nackt auf dem Tisch tanzen. Und zweitens sind neun von zehn Politikern deshalb Politiker, weil sie damit leben können, dass die Politik ein humorfreies Geschäft ist. Sprich: Sie haben selber keinen. Wenn Sie es lustig haben wollen, sind Sie vermutlich besser bedient, wenn sie sich bei einem Leichenmahl einschleichen.
10. Am Sonntag ist alles vorbei
Das wars dann wieder für vier Jahre mit den Wahlen, juhu! - Naja. Wers glaubt. Erstens lesen wir nun die ganze folgende Woche all das, was unter 1 und 2 steht. Zweitens gibt es da und dort zweite Wahlgänge. Drittens stehen schon bald kantonale Wahlen an. Und dann kommunale. Und wenn wir uns allmählich von diesem Marathon erholt haben, dann…. raten Sie mal.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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