In der Schweiz ist es kaum mehr ein Thema. Aber im Ausland herrscht bis heute eine Art negative Faszination über die Tatsache, dass in Appenzell Innerrhoden erst 1991 das Frauenstimmrecht eingeführt wurde - und auch das nur auf Druck des Bundesgerichts. Twitter ist voll von entsetzten Erinnerungen.
«Women weren't allowed to vote in Switzerland (Appenzell) until 1990.»
Das schreibt eine Dame, die sich auf Twitter «Maths» nennt und die in Paris wohnt. Ihr Tweet stammt vom 13. März 2019, ist also brandaktuell. Sie schreibt den Satz nicht aus einer Aktualität heraus, sondern vermutlich, weil sie gerade auf diese Tatsache gestossen ist und verwundert - oder entsetzt - war.
Judith Flanders ist Engländerin. Und sie teilt die Empörung. In einer Twitterdebatte über Frauenrechte in der Politik schreibt sie sinngemäss: «Vergesst nicht, dass Schweizer Frauen erst 1971 das Bundeswahlrecht erhalten haben. In Appenzell brauchte es einen Gerichtsentscheid, damit die lokale Regierung den Frauen das Wahlrecht 1991 erteilte.»
Es geht weiter. Marcel Planagumà aus Brüssel findet mit dem Verweis auf die selben Fakten, dass es zweifelhaft sei, warum die Schweiz immer wieder als Beispiel für eine echte Demokratie herhalte. Er verweist darauf, dass die Innerrhoder Männer noch 1990 gegen das Frauenstimmrecht votierten.
Und ein gewisser «Gro-Tsen» aus Frankreich schreibt ebenfalls auf Twitter: «Der Kanton Appenzell Innerrhoden hält die zweifelhafte Ehre, der letzte zu sein, der Frauen ein Stimmrecht erteilte im Jahr 1991.»
Alle diese Beiträge erschienen in den letzten zwei Wochen auf Twitter. Und es ist nur eine kleine Auswahl der erschienen Tweets. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass das Thema aufgebracht wird. Und das, ohne dass ein «Jubiläum» oder dergleichen ansteht - der Hinweis auf diese unrühmliche Sache kommt jeweils wie aus dem Nichts. Vermutlich bei der Suche nach etwas ganz anderem stossen Twitter-Nutzer aus aller Welt auf dieses exotische Detail aus dem pittoresken Appenzell.
Twitter zeigt: Während es in der Schweiz im Alltag kaum mehr ein Thema ist, dass Appenzell Innerrhoden erst vor 28 Jahren - und nicht ganz freiwillig - die Frauen in den politischen Prozess einbezog, ist dieses Stück Geschichte im Ausland nach wie vor ein vielverbreiteter Gesprächsstoff.
Es ist nicht anzunehmen, dass die damaligen Kämpfer gegen das Frauenstimmrecht geahnt haben, wie sehr sie dieses Thema noch nach fast 30 Jahren verfolgen würde. Denn 1991 waren Twitter und Co. noch nicht einmal ansatzweise zu sehen oder zu prognostizieren.
Immerhin: Nachhaltigen Schaden scheint der kleine Kanton auch im Ausland nicht davonzutragen. Denn auf einen Frauenstimmrecht-Tweet kommen schätzungsweise zehn Beiträge, in denen von der einmaligen Landschaft, den Wanderwegen und dem Alpstein geschwärmt wird. Die von vielen als Schande wahrgenommene Sache ist in der Twitterwelt eine flüchtige Angelegenheit. Touristen schreckt sie kaum ab.
Aber verschwinden wird das Thema nicht so schnell - den sozialen Medien zum Dank.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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