logo

Keine Evidenz, Slalomkurs, Widersprüche

Ein Bundesrat, der sich auf sein Volk blind verlassen kann

Ob Politiker richtig agieren oder nicht, ist meist eine Frage des persönlichen Standpunkts. Viel wichtiger ist deshalb, dass sie verlässlich handeln. Egal in welche Richtung. Das hat der Bundesrat in den vergangenen 14 Monaten definitiv nicht hingekriegt. Dafür gibt es genügend Beispiele.

Stefan Millius am 28. April 2021

Richtig oder falsch? Das gibt es bei keiner Abstimmung. Rentenalter rauf oder runter, Annäherung oder Distanz zu Europa, mehr oder weniger Ausländer: Es ist immer eine Frage der eigenen Haltung. Die Mehrheit entscheidet, der Rest lebt damit. Das ist grob verkürzt die Erfolgsgeschichte der Schweiz. Eine weltweit einmalige Erfolgsgeschichte übrigens.

Entscheidender als der Ausgang einer Abstimmung ist ihre Verlässlichkeit. Was beschlossen wurde, gilt, basta. So weh es auch tun mag. Dieses Prinzip ist in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Mehrfach war zu beobachten, wie «Bern» versuchte, eine an sich klare Entscheidung in der Umsetzung zu verwässern, was dann sogar zur grotesken Situation führte, dass erneute Volksinitiativen dafür sorgen sollten, dass das einmal Beschlossene auch Wirklichkeit wird. Das sollte nicht sein, das darf nicht sein. «Ds Wort gilt», wie die Glarner sagten, nachdem an einer Landsgemeinde die Revolution einer massiven Reduktion der Zahl der Gemeinden überraschend Wirklichkeit wurde.

«Ds Wort gilt.» Schweizerischer kann man es nicht sagen. Aber welches Wort gilt heute noch?

Längst keines mehr. Vieles, was seit Februar 2020 geschehen ist, könnte man mit Blick auf die vielen Unsicherheiten rund um das Coronavirus vielleicht sogar als «vorsichtshalber» verbuchen, selbst wenn es einem nicht passt. Temporär eingesetzte unangenehme Massnahmen? Die Schweiz und ihre Bevölkerung hätten wohl damit leben können. Wenn sie stringent gewesen wären. Wenn man eine Line dahinter erkannt hätte. Wenn klar geworden wäre, dass der Bundesrat aus bestem Wissen und Gewissen handelt. Wenn die Massnahmen belegbar effektiv gewesen wären.

Das ist beim besten Willen schon lange nicht mehr der Fall.

Aber unsere Regierung hat einen entscheidenden Vorteil. Oder besser: Zwei. Zum einen die erstaunliche Obrigkeitsgläubigkeit der Menschen hier, die sich in Zeiten von Corona offenbart. Viele Menschen wollen offenbar geführt werden, sie sind froh, wenn sie nicht selbst denken müssen, und Widerstand ist ihnen zutiefst zuwider. Und zweitens: Sie haben ein sehr, sehr kurzes Erinnerungsvermögen. Denn sonst müssten sie sich längst in heller Aufregung befinden.

So hat das Volk in diesem Land in rekordverdächtiger Zeit vergessen, dass die Maske, die heute als unverzichtbares Element im Kampf gegen die Ansteckung vermarktet und verordnet wird, in ihren Anfängen von höchster Stelle als untaugliches Mittel zur Abwehr des Virus bezeichnet wurde. Später hiess es halbherzig, man habe das nur so kommuniziert, weil die Maske nicht ausreichend verfügbar gewesen wäre. Bei den Heerscharen von teuren Kommunikationsexperten, die der Bund auf unsere Kosten beschäftigt, muss man sich schon fragen, ob das die richtige Strategie war – wenn die Behauptung überhaupt stimmt. Etwas, was man eigentlich für unverzichtbar hält, als nicht wichtig brandmarken, weil gerade nicht genug Exemplare rumliegen? Ein Staat, der das tut, müsste eigentlich unter Vormundschaft gestellt werden. Handlungsfähig ist er jedenfalls nicht.

Dann wurden wir im Herbst 2020 brandschwarz angelogen, als man uns aufschwatzte, mit einer Reisequarantäne in bestimmte Länder werde die Ansteckungsgefahr in der Schweiz reduziert. Schon sehr früh lagen Zahlen vor, die zeigten, dass das Unsinn ist. Von Rückkehrern drohte eine Gefahr weit unter einem Prozent. Wir hätten reisen können, wo immer wir auch hinwollten. Aber mit dem skandalösen Märchen wurden Menschen – bei vollem Bewusstsein, dass es nicht nötig war – gezwungen, ihre Ferien zu stornieren oder überstürzt zurückzureisen.

Der Aufschrei der Allgemeinheit blieb auch hier aus. Solange wir das Geld zurückkriegen von der Versicherung, ist ja alles halb so wild.

Und dann die Restaurants. Bis heute ist der Bundesrat jeden Nachweis dafür schuldig geblieben, dass vom geselligen Zusammensein in einem Lokal eine Gefahr ausgeht. Gleichzeitig werden ganz offiziell seit langem die Privathaushalte als grosser Ansteckungsort identifiziert. Dort kann man sich treffen, inzwischen sogar wieder mit mehr Personen. Aber zu viert an einem Restauranttisch, mit Maske bis zum Platz, mit Plexiglasscheibe zum nächsten Tisch: Dort lauert er also, der sichere Tod?

Es ist völlig abseitig. Aber Gesundheitsminister Alain Berset orakelte noch vor wenigen Monaten vor den Medien davon, dass man zwar nichts Genaues wisse, aber dass sich irgendwo in den Restaurants etwas Gefährliches «verstecke». Seine Worte. Ganz im Ernst.

Wir haben keine Kultur und keinen Mechanismus des Abwählens in der Schweiz, aber wenn es jemals nötig gewesen wäre, dann im Fall von Berset und einer solchen absurden und im Video dokumentierten Aussage. Lasst uns eine Branche ausbluten, weil irgendwo – hinter dem Tresen oder im Serviceportemonnaie oder im Tiefkühler vielleicht? – eine Gefahr lauert, die wir aber leider nicht genau lokalisieren können, trotz aller Experten. Und aufgrund dieser dunklen, unbewiesenen Annahme gehen Beizer jetzt zugrunde? Und Zeitungen wie das «St.Galler Tagblatt» dürfen diesen Beizern dann vorwerfen, sie «jammern»? Während es keine andere Branche gibt, die so sehr jammert wie die Medien?

Aber das mit den Restaurants: Nicht so schlimm. Man kann ja selbst kochen. Oder einen Lieferdienst bemühen. Die Duldsamkeit der Schweizerinnen und Schweizer ist wirklich endlos. Es gibt keinen schöneren Job als Bundesrat. Man kann den grössten Unsinn verkünden, keiner muckt auf. Jeder Gemeindepräsident hat im Alltag mit mehr Widerstand zu leben als Berset und Co.

Und als bekannt wurde, dass die ominösen Fallzahlen seit Beginn der Massentests an Schulen und Institutionen so hoch sind, weil nur die positiven Tests in die Statistik fliessen, die negativen aber – weil der Aufwand zu gross wäre – einfach unter den Tisch fallen gelassen wurden, da hätte er spätestens kommen müssen, der allgemeine Aufschrei. Man muss keinen blassen Schimmer von Statistik haben, um zu erkennen, dass Zahlen, die so erhoben werden, völlig sinnfrei sind. Aber in unserem Land dienen sie zur Durchsetzung der Einschränkung von Grundrechten.

Das Bundesamt für Gesundheit durfte diese Ungeheuerlichkeit in einem lapidaren Satz bestätigen und einfach weitermachen. Es interessierte niemanden. Dank einer grandiosen Vorarbeit übrigens. Nach einem vollen Jahr der Panikmache will niemand mehr Details kennen. Offenbar sind wir ja alle dem Tod näher als dem Leben, was soll es da schon ausmachen, wenn unsere nationalen Behörden Zahlen einfach mal verfälschen? Sie tun es ja, um uns zu schützen. Vor was auch immer.

Wer nach dieser Auflistung noch überzeugt ist, dass es diesem Staat um unsere Gesundheit geht, dem ist beim besten Willen nicht mehr zu helfen. Es gab in den vergangenen 14 Monaten unzählige Hinweise darauf, dass es nicht um die Wahrheit geht, sondern darum, eine bestimmte Politik durchzusetzen. Nichts von dem, was uns prognostiziert wurde, ist eingetroffen. Weder das grosse Sterben noch die Überlastung des Gesundheitssystems.

Und wer jetzt sagt, das hätten wir nur den getroffenen Massnahmen zu verdanken, dem sei die Frage gestellt: Welche davon? Mal waren die Läden das Problem, dann die Privathaushalte, dann die Ansammlungen draussen, dann die Restaurants. Man suche sich etwas aus. Die Politik des Bundesrates seit Februar 2020 war völlig erratisch. Es wurde stets aus dem Moment heraus irgendetwas beschlossen, widerrufen, von Neuem beschlossen. Wer behauptet, dieses Chaos hätte zur Abwehr einer Ansteckungsgefahr geführt, der wartet am 24. Dezember auch mit glänzenden Augen aufs Christkind.

Die Politik ist in diesem Land handelt völlig irrational. Ist die Entwicklung positiv, führt sie das auf ihre Entscheidungen zurück, obschon diese keinerlei Linie haben. Ist die Entwicklung negativ, dann sind die Menschen im Land schuld, weil sie sich nicht an die Verordnungen gehalten haben. An Verordnungen, die zu keinem Zeitpunkt begründet und von Beweisen untermauert waren. Bis heute warten wir vergeblich auf eine Studie, welche einen positiven Effekt eines Lockdowns nachweist. Es ist nicht nötig. Es wehrt sich ja nur eine kleine Minderheit, wenn man ihn beschliesst.

Und dann gibt es die besonders kreativen Zeitgenossen, die zwar einige Fragezeichen haben, aber lapidar befinden: «In anderen Ländern ist es noch schlimmer als bei uns.»

Ist es, ja. In Deutschland ist der nackte demokratie- und grundrechtfseindliche Wahnsinn ausgebrochen. Mit Ausgangssperre und so weiter. Aber ist das unser Massstab? Ist die Schweiz das, was sie ist, indem sie stets gesagt hat: «Woanders ist es noch schlimmer?»

Der Kampf gegen das Virus ist nicht zu gewinnen. Mit dem haben wir einfach zu leben. Aktuell drohen wir aber einen wichtigeren Kampf zu verlieren: Den um das, was uns als Nation einst ausgemacht hat. Jeder, der sich dagegen wehrt, der wehrt sich für unsere Ursprünge und damit für das, was uns auch in Zukunft Sicherheit und Wohlstand garantiert. Und jeder, der die Politik der Zufälligkeiten stützt, untergräbt das Erfolgsmodell.

Der Bundesrat inklusive.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.