Die St.Galler SVP lanciert einen Vorschlag: Eine Art «Ständemehr» auf kantonaler Ebene. Den Gemeinden soll mehr Bedeutung zukommen. Das kann man gut oder schlecht finden. Was aber irritiert: Wenn eine Idee dieser Art einfach mal grundsätzlich verdammt wird.
Wir haben etwas verlernt: Ideen, vielleicht auch verrückte, einfach mal rauszuposaunen und dann offen darüber zu sprechen. Vielleicht lernen wir etwas aus dem Vorschlag, selbst wenn er nicht das Gelbe vom Ei ist. Vielleicht ist die Idee komplett verrückt, dann kann man sie begraben. Aber der erste Schritt, der offene Dialog darüber: Das schaffen wir heute nicht mehr. Leider.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Ansatz der St.Galler SVP. Sie hat via Motion angeregt, ein Gemeindemehr bei kantonalen Vorlagen einzuführen. Konkret würde das heissen: Bei einer kantonalen Abstimmung ist nicht mehr einfach das Stimmenmehr im ganzen Kanton entscheidend. Gleichzeitig müsste auch eine Mehrheit der St.Galler Gemeinden, mehr als 70 an der Zahl, für etwas sein. Das kennen wir – nicht identisch, aber ähnlich – mit dem Ständemehr auf nationaler Ebene.
Das ist eine Idee, die man gut kontrovers diskutieren kann. Macht es einen Sinn, dass eine kleine Landgemeinde im Extremfall den Wunsch der Stimmbevölkerung in der Stadt St.Gallen aushebeln kann? Ist das nicht eine Bevorzugung der Mikroeinheiten, die es im Kanton auch gibt? Erhalten kleine Gemeinden damit nicht zu viel Macht gegenüber den Städten? Oder ist gerade das sinnvoll?
Man könnte das diskutieren. Die Unart unserer Zeit ist aber leider: Debatten sind unerwünscht. Man muss alles, was jemand vorschlägt, gleich in Grund und Boden verdammen. Die St.Galler SP legt davon Zeugnis ab. In einer Medienmitteilung zum Vorschlag der St.Galler SVP spricht sie von einem «Angriff auf die Demokratie». Interessant. Nehmen wir an, eine Mehrheit der St.Gallerinnen und St.Galler befänden den Vorstoss der SVP auf demokratischem Weg für richtig, wäre es immer noch ein Angriff auf die Demokratie? Ist es undemokratisch, wenn etwas auf demokratischem Weg beschlossen wird, was der bisherigen Auffassung von Demokratie zuwider läuft?
Es gibt viele gute Argumente gegen dieses «Gemeindemehr». Es ist zum ersten nicht vergleichbar mit dem nationalen Ständemehr, das historisch gewachsen ist und eine Voraussetzung dafür war, dass die Eidgenossenschaft überhaupt als Verbund zueinander fand. Das Ständemehr hat wenig damit zu tun, dass eine Gemeinde von 2000 Einwohnern dasselbe Gewicht erhält wie eine Stadt St.Gallen mit über 80'000 Menschen.
Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass wir an jedem Abstimmungssonntag gebannt auf die Bildschirme schauen, bis die Resultate von St.Gallen oder Rapperswil-Jona oder Wil eingetroffen sind, weil sie das Potenzial haben, jedes Ergebnis über den Haufen zu werfen. Obschon die Einwohner dort bekanntlich völlig anders ticken als Leute in Ebnat-Kappel, Oberriet oder Sevelen. Man kann das als Tatsache akzeptieren oder offen darüber diskutieren. Den Anstoss zu Letzterem hat die SVP mit ihrem Vorstoss gegeben.
Aber wie klingt das bei der SP und ihrer Kritik? Sie nennt das «Anti-Städte-Kampagne». Man könnte gleichzeitig den Status quo als «Anti-Land» bezeichnen. Beides führt zu kurz. Im Idealfall sprechen wir darüber, wie Städte, Agglomeration und Landgemeinden am besten miteinander kutschieren. Dafür ist die Idee der SVP nicht die schlechteste Vorlage.
Fakt ist, dass die SP jedes Interesse daran hat, dass die Städte am längeren Hebel sitzen. Die sind in aller Regel linksgrün eingestellt. Menschen, denen es egal ist, dass sie Fantasiesummen an Steuern zahlen, sind selten besonders sensibilisiert für Staatsausgaben. Man gewinnt Wahlen und Abstimmungen mit ihnen. Da herrscht ein Ungleichgewicht, und darüber sollte man sprechen können. Das geht aber schlecht, wenn eine blosse Idee gleich in Grund und Boden verdammt wird.
Vollends absurd wird es, wenn die SP von einer «undemokratischen Forderung der SVP-Kantonsratsfraktion» spricht. Wie können gewählte Volksvertreter etwas «Undemokratisches» fordern? Sie legen einen Vorschlag vor, und wenn der eine Mehrheit findet, ist das ein Stück Demokratie, basta. Das ist das Wesen der Demokratie. Noch lustiger wird es, wenn die SP vom «politischen Kalkül mit dem Ziel, die Verwaltungsarbeit zu verlangsamen» spricht. Niemand steht mehr für viel zu viel und viel zu langsame Verwaltungsarbeit als die SP, die mit jeder Vorlage die Staatsquote erhöht, die keinerlei Wertschöpfung beinhaltet.
Und schliesslich, und hier tanzt der gesunde Menschenverstand wirklich Tango, feiert die SP die Städte als wichtige «Anziehungskraft für Unternehmen und Fachkräfte» die für das nötige Steuersubstrat sorgen. Die SP sorgt sich um Arbeitsplätze und das Steuersubstrat? Wirklich? Deshalb tut sie auch alles dafür, dass beispielsweise die Stadt St.Gallen eine veritable Steuerhölle bleibt und jeder, der seine fünf Sinne beieinander hat, woanders wohnen will? Zum Beispiel auf dem Land? Seit wann kümmern sich Sozialdemokraten um Arbeitsplätze?
Die Idee eines «Gemeindemehr» ist derzeit noch unausgegoren. Es ist offen, ob daraus etwas werden kann, was den Kanton St.Gallen weiterbringen kann. Aber um das herauszufinden, müsste man die Idee offen anschauen. Das entspricht aber nicht dem Zeitgeist. Die politische Konkurrenz erfordert etwas anderes: Reflexartig muss man auf das einhacken, was die andere Seite vorschlägt. Wäre es nicht sinnvoller, offen über Vor- und Nachteile eines Vorschlags zu sprechen? Und danach zu einem gemeinsamen Konsens zu finden?
Das will niemand. Denn irgendwann sind wieder Wahlen. Also lieber Zeter und Mordio rufen, statt sich inhaltlich mit einer Idee auseinanderzusetzen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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