logo

Die unerschütterliche Leidensfähigkeit der Schweiz

Ein Grounding in dünnen Scheibchen

«Schauen wir mal von Monat zu Monat»: Was der Bundesrat am Mittwoch an Plänen vorgestellt hat, ist die Fortsetzung seiner verantwortungslosen Politik, jetzt einfach in der Form von Wursträdli. Für ihn sind Dinge, die zwingend sofort passieren müssten, ab April erst «vorstellbar.»

Stefan Millius am 18. Februar 2021

Der Bundesrat habe den Schweizern eine «Perspektive» gegeben, schreibt der Kommentator einer anderen Zeitung kurz nach der neuesten Veranstaltung in der Reihe «Es ist eigentlich alles besser, aber…» des Bundesrats.

Diese Einschätzung sagt eigentlich alles aus über den Zustand dieses Landes nach einem Jahr Corona.

Perspektive? Wenn einer zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wird, hat er auch eine Perspektive. Sie führt einfach über eine ziemlich lange Strecke und ist eher ungünstig. Nein, der Bundesrat hat heute keine «Perspektiven» eröffnet, sondern auf einer nach wie vor völlig fehlenden Grundlage ein paar Sugus verteilt, ansonsten aber seinen Kurs im Grunde sogar noch zementiert, und das mit einer neuen Taktik, die einige als «Öffnung» missverstehen.

Wir erinnern uns: Einige politische Kräfte forderten vor der neuesten Runde eine Öffnung der Gastronomie ab 1. März, zum Teil sogar als Akt zivilen Ungehorsams. Geht es nach dem Bundesrat, ist es nun «vorgesehen» – also keineswegs sicher –, dass ab 1. April Restaurantterrassen geöffnet werden. Ab April. Terrassen.

Man muss das ausdeutschen, denn es entsteht der Eindruck, dass das nicht bei allen einsinkt: Faktisch würde damit der Gastro-Lockdown sicher um einen Monat verlängert, nämlich um den März, bevor ab April vielleicht im Freien serviert wird, aber nicht drinnen. Allenfalls findet es Petrus ja sogar lustig, es im April schneien zu lassen.Bilanz: Ein ganz verlorener März, ein sicher halbwegs verlorener April, möglicherweise sogar ein ganz verlorener April. Dass es im Mai anders aussieht, dafür gibt es keine Garantien.

Alles in allem nähert sich die Schweizer Gastronomie, wenn es zur schlimmsten bereits angedeuteten Variante kommt, damit langsam einem halben Jahr Untätigkeit am Stück. Und das nennen einige Leute ganz ernsthaft eine «Perspektive».

Und die Zeitungen konzentrieren sich derweil in ihren Überschriften auf das, was ab dem 1. März «alles wieder möglich» sei. Der Fokus müsste aber darauf liegen, was nach wie vor nicht möglich ist und was darüber hinaus auf die noch längere Bank geschoben wird. Läden wieder offen? Schön. Allerdings natürlich mit reduzierter Kundenzahl, Maske und Abstand. Was den Vorteil hat, dass die Innenstädte plötzlich wieder belebt wirken, weil sich die Schlangen der Wartenden gegenseitig kreuzen. Und bei allem Respekt vor hoher Kultur: Wenn man hervorheben muss, dass ein Land bald wieder ins Museum darf, dann wird klar, dass unterm Strich so gut wie gar nichts passiert ist. Verzeihung, aber Museen retten uns nicht.

Oder dann: 15 Leute dürfen sich im Freien wieder treffen. Ein dankbares Aufatmen geht durch die Schweiz. Statt dass man darüber spricht, dass der Staat ein elementares Grundrecht, die Versammlungsfreiheit, nach wie vor aushebelt, Dauer ungewiss. Von den Innenräumen sprechen wir gar nicht erst, dort will der Bundesrat vermutlich noch lange, dass sich keine Gruppen zusammenfinden,die allenfalls im Gespräch bei einem Bier drauf kommen könnten, was hier alles falsch läuft. Die Fünferregel in Privaträumen wird nicht mal mehr hinterfragt; wenn alles gut läuft, kann das auch gleich die langfristige Zukunft bleiben. Seien wir ehrlich, viele der Leute, die wir sonst so einladen, können wir ja eigentlich gar nicht leiden.

Aber lasst uns nun doch einfach jubeln, dass die Läden wieder geöffnet werden, unter welchen widrigen Umständen auch immer.

Auf das, was derzeit in der Schweiz passiert, passt das Bild des Hundes, der Abend für Abend geschlagen wird und dem Herrchen dann freudig die Hand leckt, wenn der ausnahmsweise mal zu müde ist für Prügel.

Natürlich, das sind alles nur Vorschläge, in einer Woche wissen wir mehr. Die Kantone werden sich nun vernehmen lassen können, und der Bundesrat betont, er werde die Reaktionen ernst nehmen. Was konkret vermutlich bedeutet, dass die Stellungnahme in einem fabrikneuen statt in einem gebrauchten Bundesordner abgelegt werden, es sagt ja niemand, dass man sie vorher lesen muss. Es wäre mehr als erstaunlich, wenn die Stimmen der Kantone in irgendeiner Weise beeinflussen würden, was der Bundesrat vorhat.

Im Grunde ist es aber völlig egal, was angetönt wurde und in einer Woche vermutlich beschlossen wird. Die Debatte um Details übertüncht nur den eigentlichen Skandal, der übrigens kein neuer ist. Erstens, dass die sinkenden Zahlen keinen Einfluss auf Entscheidungen haben, weil ja die ominösen Virusvarianten einfach sowieso jede Massnahme möglich machen. Und zweitens, dass der Bundesrat behauptet, man könne aufgrund dieser Mutationen im Moment eben nur Dinge zulassen, bei denen das Infektionsrisiko tief sei.

Denn es fehlt, und eigentlich müsste man das in den grossen Lettern schreiben, die andere Zeitungen gerne verwenden, nach wie vor jeder Beleg, dass die Gastronomie ein Ansteckungsrisiko darstellt. Im Gegenteil, sie gehörte dank ihrer vorbildlichen Umsetzung jeder angeordneten Massnahme vor dem Lockdown zu den sichersten Aufenthaltsorten. Würde die Landesregierung ihre Worte selbst ernst nehmen, müssten die Restaurants also umgehend öffnen können. Erklären lässt sich diese alberne Sturheit mittlerweile wirklich nur noch damit, dass die Lebenslust erstickt werden soll.

Aber eben: Das alles sind ja offenbar echte «Perspektiven», wenn man den Kommentatoren glauben darf. Das zeigt, dass dieses Land eine weite Reise hinter sich hat, auf der vieles verloren gegangen ist. Der gesunde Menschenverstand. Der Widerstandswille. Die Selbstachtung. Das Bewusstsein dafür, wer eigentlich der Herr im Haus ist. Es ist, pardon, mit Sicherheit nicht der Bundesrat.

Wir haben es tatsächlich in einem knappen Jahr geschafft, dass Teile des Landes dankbar aufatmen, wenn auf der Grundlage von Widersprüchlichkeiten, beweislosen Behauptungen und schwammigen Befürchtungen ein Teil von Massnahmen gelockert wird, die bereits bei ihrer Einführung keine Grundlage hatten. Das macht mehr Angst als jeder Virus.

Wir befinden uns nun neuerdings in der «Auf-Zusehen-Schlaufe». Im Hintergrund berechnet das BAG weiter laufend Zahlen, die ja – man weiss wirklich bald nicht mehr, wo man anfangen soll in der ganzen Verzweiflung – sowieso entweder ganz grundsätzlich fragwürdig sind oder bei denen die Experten Berechnungsfehler produzieren; wir erinnern uns an den R-Wert. Mit diesem untauglichen Material wird der Bundesrat gefüttert, der dann Monat für Monat die Stirn in Falten legen und auf den nächsten Monat verweisen kann.

Die Komödie ist perfekt, wenn man sieht, dass der Bundesrat bei seiner Monatsbetrachtung völlig ernsthaft ganz harte Zahlen als Massstab nehmen will. Was dann so aussehen wird: Erreicht das Land in einem Monat die gesetzten Kriterien nicht, darf es keine Lockerungen geben. Erreicht es sie, ebenfalls nicht, denn, wir erinnern uns: Die Mutationen! Es ist eine Treppe, bei der man einfach immer im Untergeschoss landet, völlig egal, in welche Richtung man geht. Man kommt sich vor, als wäre man in eine der Zeichnungen von M.C. Escher geraten, aus der es kein Entrinnen gibt.

Wenn die betroffenen Branchen, die Verbände, die Zivilgesellschaft diese neue Taktik regungslos schlucken, dann weiss man im Bundeshaus: Mit denen kann man nun wirklich alles machen. Und was dieses «alles» ist, mag man sich gar nicht ausmalen angesichts dessen, was innerhalb weniger Monate bereits geschehen ist.

Aber nun geben wir die Bühne frei für den Proteststurm von Branchenverbänden, Wirtschaftskammern und einzelnen Politikern, bevor dann das geschieht, was immer geschieht. Gar nichts.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.