Wie üblich hat auch auch der St.Galler Regierungsrat Beat Tinner nach 100 Tagen eine erste Bilanz im Amt gezogen. Vermutlich hätte er das auch früher tun können. Denn es wirkt stellenweise, als wäre er schon immer in der Regierung gewesen. Eine Beurteilung.
Das Hudelmoos bei Muolen. Hier zog Beat Tinner seine 100-Tage-Bilanz als St.Galler Regierungsrat. Dort, wo ein grosses Biodiversitätsprojekt entsteht. Der Startschuss zur Sanierung von rund 900 Biotopen. Der Ort war kaum zufällig gewählt. Tinner hat schon immer gerne Naturprojekte eingeweiht. In über 20 Jahren als Gemeindepräsident von Wartau hat er das unzählige Male getan. Der Freisinnige hat einen Hang zur Natur - ohne deshalb gleich ein Grüner zu sein.
Als Chef der Volkswirtschaft darf er diese Leidenschaft auch ausleben in den sogenannten «grünen Ämtern» wie dem Kantonsforst- und Landwirtschaftsamt und dem Amt für Natur, Jagd und Fischerei. Das sind vermutlich hochwillkommene Abwechslungen zu dem Teil des Jobs, der in den letzten Monaten härter war als je zuvor: Der Pflege der Wirtschaft ganz allgemein, der Unterstützung der gebeutelten Unternehmen.
Beat Tinner ist zu einem schwierigen Zeitpunkt ins Amt gekommen. Neben der Pandemiebewältigung beschäftigte ihn in der Startphase Projekte wie das Bewerbungsdossier für den Innovationspark Ost. Die Tourismusfinanzierung muss neu aufgegleist werden, die Ladenschlussgesetzgebung den neuen Gegebenheiten angepasst werden und einiges mehr. Die Themen sind dem Ex-Gemeindepräsidenten alle nicht neu, er hatte sie jahrelang in der Umsetzung vor der Haustür.
Entscheidender als die konkreten Themen ist wohl das Atmosphärische. Tinner, dem vor der Wahl stets das Klischee des zuverlässigen, aber eher brötigen und verwaltenden Magistraten vorausging, hat jetzt die Gelegenheit, einem breiteren Publikum zu zeigen, dass man ihn falsch eingeschätzt hat. Das hat er schon im Wahlkampf mehrfach gemacht, und es ist beruhigend, dass er nach erfolgter Wahl nicht etwa zurückbuchstabiert.
Der FDP-Regierungsrat ist eigentlich die Überraschung des erneuerten Gremiums. Er scheint sogar das pure Gegenteil von dem zu sein, was man ihm nachsagte, bringt neben Kompetenz und Professionalität auch eine Ladung Schalk in die Regierung. Und er hat eine ziemlich seltene Qualität als Politiker: Man versteht, was er sagen will.
Ein kleines Beispiel dazu. Bei einem Podium zur Begrenzungs-/Kündigungsinitiative ging es um die Frist von zwölf Monaten, in denen die Schweiz bei einem Ja mit der EU den Rank neu finden müsste. Tinner erwähnte die Tierleidinitiative auf kantonaler Ebene, mit der er sich derzeit auch befassen muss. Im Fall einer Zustimmung habe der Kanton vier Jahre Zeit, die tödlichen Zäune in den Wäldern verschwinden zu lassen. Tinner dazu: «Vier Jahre, um Zäune zu entfernen, und in einem Jahr wollen wir eine neue Vereinbarung mit der EU über unsere Zusammenarbeit finden?» Es war eine Vorstellung, die tief einsank, sie war viel stärker als die technischen Argumente, welche die anderen Gegner aufführen.
Dieses Bildhafte, das Eingängliche pflegt Tinner bei seinen Auftritten explizit. Auftritte übrigens, die er nach wie vor in grosser Zahl und auch vor kleinem Publikum immer wahrnimmt, auch wenn er ja bereits gewählt ist. Und er scheint immer gerne dort zu sein. Früher hatte die Regierung auch schon den einen oder anderen hervorragenden Rhetoriker in ihren Reihen, der aber oft einen lehrerhaften Eindruck vermittelte. Tinner kommt nie von oben herab, immer auf Augenhöhe. Glaubt er, es besser zu wissen, macht er das nicht deutlich, sondern holt die Leute auf ihrem Wissensstand ab.
Gut möglich also, dass der einstige «ewige Kandidat», der nun endlich im Amt angekommen ist, dort langsam zum heimlichen Star aufsteigt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.