Historiker Hans Fässler ist überzeugt: Spätestens Ende 2024 heisst der Rote Platz in St.Gallen offiziell nicht mehr «Raiffeisenplatz». Die Benennung eines Platzes nach einem ausgewiesenen Antisemiten könne sich St.Gallen nicht leisten. Der Vorschlag: Recha-Sternbuch-Platz.
Seit dem 23. August 2005 heisst der im Volksmund als «Roter Platz» benannte Fleck Stadt offiziell «Raiffeisenplatz». Hätte man damals schon gewusst, dass man mit der Benennung nach Friedrich Wilhelm Raiffeisen nicht nur einen Pionier des genossenschaftlichen Bankwesens, sondern einen ausgewiesenen Antisemiten zu grossen Ehren verhalf, hätte der Stadtrat sich bestimmt für einen anderen Namen entschieden.
Spätestens seit 2018 aber kann niemand mehr guten Gewissens behaupten, nichts von der antisemitischen Haltung Raiffeisens zu wissen: Damals – anlässlich des 200-Jahr-Jubiläum der Bank – erschien das Buch «Raiffeisen. Anfang und Ende», das erstmals einem grösseren Publikum den Antisemitismus des Bankenpioniers detailliert darlegte.
Vorschlag zur Namensänderung
Ein Kollektiv von acht Personen rund um den Historiker und Stadtführer Hans Fässler schlug am 2. Juni 2021 dem Stadtrat vor, den Raiffeisenplatz umzubenennen. Fortan soll er «Recha-Sternbuch-Platz» heissen. Bei Recha Sternbuch (1905 bis 1971) handelt es sich um eine orthodoxe Jüdin, die mit ihrer Familie in St.Gallen lebte und sich immer wieder und unter hohem persönlichem Risiko als Helferin und Retterin für jüdische Flüchtlinge hervortat. Von ihr ist bekannt, dass sie immer wieder an die Grenze fuhr, um dort Flüchtlinge abzuholen, sie in St.Gallen zu beherbergen und ihre Weiterreise zu organisieren.
Weil auch fast zwei Jahre nach dem Brief an den Stadtrat weder bei diesem noch bei der Raiffeisen-Bank eine Entscheidung über die Umbenennung des Platzes gefallen sei, gingen die Briefunterzeichner am heutigen Donnerstag mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit und organisierten auf dem Roten Platz eine Pressekonferenz. «Die Ostschweiz» hat sich mit Hans Fässler ausgetauscht und ihm ein paar Fragen gestellt.
Herr Fässler, der Rote Platz soll neu Recha-Sternbuch-Platz heissen. Warum nicht einfach «Roter Platz», so wie ihn jeder kennt und nennt?
Wer will, kann den Platz weiter «Roter Platz» nennen. Aber die offizielle, im Grundbuch der Stadt festgehaltene und mit einer Tafel markierte Benennung nach einem Antisemiten ist nicht haltbar.
Man könnte auch die Künstlerin ehren und ihn «Pipilotti-Rist-Platz» nennen. Was spricht dagegen?
Pipilotti Rist ist eine international renommierte Künstlerin, die für ihr Werk «Stadtlounge» schon ausgiebig gewürdigt worden ist. Aber mit der in St.Gallen weitgehend unbekannten Recha Sternbuch wird ein Zeichen gegen den Antisemitismus und für den Einsatz für an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge gesetzt.
Warum denken Sie, tut sich Stadt und Bankführung so schwer, eine Antwort auf Ihr Anliegen zu formulieren?
Die Stadt will es wohl mit einem wichtigen Arbeitgeber und einer wichtigen Steuerzahlerin nicht verderben. Die Bank fürchtet sich vor einer Debatte über die Gründerzeit von Raiffeisen und über den Namensgeber. Sie hat es verpasst, diese Debatte aktiv und mit Blick nach vorn anzugehen. Auf Anfragen, die Angelegenheit mit uns Initianten und Initiantinnen und der Stadt zu diskutieren, ist sie nicht eingetreten.
Wie hat denn der Stadtrat auf den Eingang Ihres Schreibens reagiert?
Die Sache ist bei Markus Buschor, Direktion Planung und Bau, ziemlich lange liegengeblieben. Es schien dann, als sei die Stadt gewillt, die Umbenennung in Angriff zu nehmen. Aber offenbar hat sich der Stadtrat dann von Raiffeisen überzeugen lassen, die Sache bis 2024 hinauszuschieben und erst einmal die Resultate von historischen Forschungsprojekten abzuwarten, die die Bank in Auftrag gegeben hat. Diese betreffen jedoch explizit nur die Geschichte von Raiffeisen Schweiz und nicht den Antisemitismus von Friedrich Wilhelm Raiffeisen.
Was werden Sie tun, wenn Sie dann mal eine Antwort erhalten, diese aber abschlägig ist?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich die Stadt leisten kann, Nein zu sagen.
Wie geht es nun – nach der heutigen Pressekonferenz – weiter?
Der mediale Druck auf die Stadt und die Bank wird steigen, auch durch die zu erwartende Berichterstattung in der internationalen Presse. Auch die St.Galler Öffentlichkeit erfährt nun zum ersten Mal, was Sache ist: dass in St.Gallen ein zentraler Platz nach einem prononcierten Antisemiten benannt ist. Das wird seine Wirkung nicht verfehlen. Und wer soll allen Ernstes gegen eine Würdigung und Ehrung von Recha Sternbuch sein?
Ihre persönliche Einschätzung: Wie gross sind die Chancen, dass einer Namensänderung stattgegeben wird?
Die Umbenennung wird kommen, es fragt sich nur noch wann. Nach meiner Einschätzung wird der Platz spätestens Ende 2024 umbenannt sein.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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