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Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong fokussiert sich mit ihrer «konzentriert GmbH» in Weinfelden auf einen der wichtigsten Bereiche des Menschen: das Gehirn. Was sie mit einem der wichtigsten Bestandteile unseres Körpers anstellt, erklärt sie im Interview.

Marcel Baumgartner am 03. November 2023

Anja Hussong, wie viel weiss man eigentlich grundsätzlich schon über das menschliche Gehirn?

Gute Frage. Streng genommen müsste man das Ende kennen, um sagen zu können, wie viel man vom Weg der Entschlüsselung schon weiss. Theoretisch weiss man schon vieles über die Funktionalität und den Aufbau des Gehirns. Die Messtechniken verbessern die Auflösung der Tiefe, mit der man ins Gehirn schauen kann, kontinuierlich, die Forschung läuft weltweit auf Hochtouren.

Inwiefern?

Vor drei Jahren habe ich an der Universität in Fribourg an einem Sezierkurs teilgenommen. Voller Vorfreude und dem Vertrauen, dass ich mit der Materie gut vertraut bin, reiste ich dort an und war ziemlich zuversichtlich, dass ich in zwei Tagen noch mehr an Sicherheit über die Vorgänge, Zusammenhänge und Funktionsweise gewonnen haben werde. Soweit die Theorie.

Es kam anders?

Ja, dann kam die Praxis. Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl. Demütig, dankbar und fasziniert im selben Moment. Während des Sezierens keimten immer mehr Fragen auf. Ganz genau erinnere ich mich noch an den Moment, als ich den Hippocampus freilegte, er erinnert an das Aussehen eines Seepferdchens, deshalb heisst er auch so. Löst man die oberste Hautschicht ab, sieht die Struktur aus wie ein Lamellenpilz und ist ca. so gross wie ein Daumen. Dieses Areal ist massgeblich an der Erinnerung und am Gedächtnis beteiligt.

Was löste das in Ihnen aus?

Ich sass dann über diesem lamellenpilzartigen Seepferdchen und fragte mich, wie genau soll denn das funktionieren? Was speichert sich da wie ab? Da passen die Erinnerungen eines ganzen Lebens rein? Auch meine Gespräche mit Neurowissenschaftlern sind eher ernüchternd im Hinblick auf Antworten über das „wie“ funktioniert das. Es geht mehr darum zu akzeptieren, dass es so funktioniert und wir dem Geheimnis wohl noch eine ganze Weile auf der Spur sein werden und uns immer wieder überraschen lassen.

Welches sind die hauptsächlichen Faktoren, die unserem Gehirn schaden können?

Diese Frage lässt sich leichter beantworten. Zum einen sind Faktoren, die schädlich sein können, gut erforscht zum anderen bestätigen sich die Fakten mit dem, was mir meine Klienten aus ihren Leben erzählen.

Was zum Beispiel?

An erster Stelle steht eine persönliche Dysbalance zwischen An- und Entspannung, man kann es auch als Stress bezeichnen, aber ich mag das Wort nicht so sehr, da es für mich zu ungenau ist. Was für den einen Menschen Stress ist, ist für den anderen keiner. Die Dysbalance wird meistens aufgrund der Dauer zum Problem. Unser Gehirn kann ganz lange anstrengende Situationen und Phasen aushalten und dennoch unbeschadet durch sie hindurch kommen. Die Dauer macht das Problem. Ausgenommen sind natürlich sehr dramatische Ereignisse.

Was heisst das konkret für unser tägliches Leben?

Unser Gehirn liebt den Rhythmus. Leben wir deutlich arrhythmisch, kann das auf die Dauer auch zu Problemen führen. Somit hilft ein regelmässiger Tag-Nacht-Rhythmus.

Unterversorgung mit Vitaminen, Spurenelementen, Eiweiss und Ölen hinterlassen im ganzen Körper Spuren und gerade die genannten auch im Gehirn.

Es benötigt aber sicherlich noch mehr?

Unser Gehirn lebt vom Input. Wenig Austausch mit anderen Menschen, wenig Neues erleben, tut ihm nicht gut. Es zieht sich im wahrsten Sinne des Wortes zurück. Das ist messbar.

Haben Sie hierfür ein Beispiel aus der Praxis?

Ich habe einmal mit einem Klienten zusammengearbeitet, der täglich gekifft hat. Wir vertraten diametral unterschiedliche Positionen, über die Auswirkungen aufs Gehirn. Somit haben wir einen Versuch gestartet und ihn ans EEG angeschlossen, als er kurz vorher einen Joint geraucht hatte. Diese Ergebnisse verglichen wir mit seinen sonstigen, wenn er unberauscht kam. Die Unterschiede, die sich durch die Aktivitätsmessung vom Stirnhirn, dem Präfrontalkortex, ableiten liessen, waren so deutlich, dass wir anschliessend weniger weit mit unserer Einschätzung auseinander lagen.

Kommen wir zu Ihren konkreten Dienstleistungen: Was macht eine Neurofeedback-Therapeutin? Klären Sie uns auf?

Bei einer Neurofeedback-Therapie werden die Gehirnströme mit Elektroden gemessen. Man hat in der Forschung herausgefunden, was sich bei bestimmten Symptomen im Gehirn verändert. Kann man sich beispielsweise schlecht konzentrieren, verliert schnell den Fokus und lässt sich durch eine vorbeifliegende Fliege ablenken, ist vermutlich eine Unteraktivierung im Stirnhirn der Grund dafür.

Und das bedeutet was?

Das heisst, dass dieser Gehirnbereich zu viele langsame Frequenzen bildet. Mittels Neurofeedback geben wir dem Gehirn nun jedes Mal, wenn es diese langsamen Frequenzen bildet, ein negatives Feedback. Jedes Mal, wenn es schnelle Frequenzen bildet, bekommt es ein positives Feedback. Das Gehirn liebt positive Feedbacks und beginnt dann mehr davon zu produzieren. Über die Dauer der Trainings trainiert sich das Gehirn dann in eine schnellere Frequenz und die Konzentrationsfähigkeit steigert sich.

Bei welchen «Störungen» kann Neurofeedback helfen?

Da das Gehirn meistens bei allen Prozessen des Körpers beteiligt ist, kann Neurofeedback zusätzlich, unterstützend oder als alleinige Methode bei sehr vielen Problemen eingesetzt werden. Hauptsächlich bei ADHS, Tinnitus, Schlafstörungen, Ängsten, Panik, Depressionen. Der ganzheitliche Ansatz ist für mich persönlich wichtig. Deshalb kombiniere ich Neurofeedback immer auch mit Coaching, um die Selbstverantwortung des Klienten mit in den Mittelpunkt zu stellen. Neurofeedback kann optimal unterstützen, verändern, Prozesse anregen und überhaupt erst möglich machen. Es ist aber entscheidend zu verstehen, welche Verhaltensweisen dazu geführt haben, dass die Person sich jetzt in der Situation befindet – so zumindest bei den Erwachsenen.

Und bei jüngeren Patienten?

Bei den Kindern wähle ich ein etwas anderes Vorgehen. Ich ermutige sie sehr und zeigen ihnen auf, was sie für ein grossartiges Gehirn haben und, warum dieses oder jenes gerade noch schwierig für sie ist, in Zukunft aber leichter gehen wird. Wenn die Zeit reif ist, treffen wir Abmachungen, was sie ab jetzt besser machen können. Das klappt meistens ganz gut.

Und wie geht das? «Polen» Sie quasi das Gehirn um, oder wie muss man sich das vorstellen?

Neurofeedback basiert auf der Lerntheorie. Ganz einfach gesagt, schüttet das Gehirn für eine Belohnung immer ein kleines bisschen Dopamin aus. Diesen Drink mag das Gehirn so sehr, dass es anfängt, davon mehr zu machen, wofür es sich selbst den Drink ausgibt. Während des Neurofeedbacks geben wir dem Gehirn Feedback, ob es für die aktuellen Frequenzen einen Drink gibt oder nicht. Während des Neurofeedbacks schauen Sie einen Film, auf den das Feedback visuell und auditiv aufgespielt wird. Die «Bestrafung» sind z.B. schwarze Punkte und ein leiserer Ton.

Was ist eine Belohnung?

Eine «Belohnung» ist ein klares Bild und ein lauterer Ton – dafür gibt es dann den Drink. Das Gehirn beginnt mehr von dem zu machen, wofür es die Belohnung erhält. Somit trainiert man sein Gehirn in den gewünschten Zustand und die Symptome reduzieren sich. Das hat dann optimale Chancen so zu bleiben, ausser man lebt wieder ganz entgegengesetzt. Durch die Plastizität des Gehirns entwickelt es sich so, wie wir es benutzen.

Ich hätte gewisse Bedenken, mein Hirn gewissermassen an einen Computer anzuschliessen. Ist es hier keinerlei Gefahren ausgesetzt?

Da kommen die «Matrix» und «Minority Report» Blockbuster aus Hollywood hoch. Das läuft in echt dann doch ganz anders. Die wichtigste Information hierzu ist, dass die Elektroden als Einbahnstrasse zu verstehen sind. Sie können nur etwas aus dem Kopf ableiten und nichts in den Kopf hineingeben. So wie ein Blutdruckmessgerät am Handgelenk ableiten kann, was ohnehin da ist, ist das beim Neurofeedback auch. Und zudem sollte man als Therapeut schon genau wissen, was man tut. Eine fundierte Ausbildung, die Neurologie, Medizin und die Funktionsweise des Neurofeedbacks beinhaltet, ist aus meiner Sicht entscheidend. Leider kann man als Laie nicht immer direkt erkennen, wie gut der Therapeut ausgebildet ist.

Worauf muss man achten?

Der wohl grösste Indikator ist die Krankenkassenzulassung. Um sie zu bekommen, braucht man wirklich eine ausgezeichnete Ausbildung und sie wird jährlich erneuert, wenn man genügend Fortbildungen nachweisen kann.

Können Sie aus der Aufzeichnung gewisse Krankheiten herauslesen?

Zur Diagnostik dürfen meine Klienten für einen Termin in eine Partnerpraxis nach Winterthur gehen. Diese Praxis ist spezialisiert auf QEEGs. Bei der Messung werden die Hirnströme in drei Modi gemessen, geschlossene Augen, geöffnete Augen und bei einem Leistungstest. Anschliessend sieht man, was im Gehirn passiert sowohl beim Wechsel der Modi als auch innerhalb derer. Die Ergebnisse sind meistens wahre Treffer und bilden die Grundlage, auf der ich das ganz individuell für jedes einzelne Gehirn angepasste Trainingsprogramm erstelle. Von Konzentrationsproblemen, Stress, Unteraktivierung, Einnässen, Schlafstörungen bis Hochsensibilität kann man vieles aus dem QEEG herauslesen. Dahinter steht eine der weltweit grössten Datenbanken, der Gehirn- und Traumastiftung Chur, mit der die Gehirne verglichen werden. Ich habe viele Klienten, die mit einem Familienmitglied kommen und dann so beeindruckt sind, dass von der Grossmutter bis zum Enkelkind alle zum QEEG wollen, weil man sich so wiederfindet und es einfach extrem spannend ist.

Kann es vorkommen, dass eine Patientin oder ein Patient mit der Methode überfordert wird?

Momentan arbeite ich mit einer Frau zusammen, der es wohl tatsächlich so geht. Sie kommt erst seit vier Wochen einmal wöchentlich. Sie hatte ein wahnsinnig gestresstes Gehirn und mit Neurofeedback trainieren wir ihr Gehirn in einen entspannteren Zustand. Das schlägt bei ihr unglaublich schnell an und sie sagt, sie spüre zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl nicht mehr innerlich auf der Flucht und im Kampfmodus sein zu müssen – sie habe ein neues Lebensgefühl geschenkt bekommen. Das sind sehr emotionale Momente – für sie und für mich. Dann gibt es Tränen der Erleichterung und ich freue mich aus ganzem Herzen mit, dass es ihr so viel besser geht.

Wie entwickelt sich dieses gesamte Gebiet? Welche Möglichkeiten könnten in naher Zukunft denkbar sein?

Darüber wird viel spekuliert und auch mit Ängsten gespielt. Ich glaube, wir bleiben Menschen und so lange wir das mit dem Hippocampus noch nicht verstanden haben, besteht meiner Ansicht nach keine Gefahr, dass Chips ins Gehirn implementiert und wir ferngesteuert werden. Grosse Fortschritte erwarte ich in den Bereichen bei Lähmungen, z.B. eine amputierte Hand ansteuern, wird immer besser gelingen. Ein grosser Hype sind seit einigen Jahren die Optimierungsgeräte bzw. «Neurofeedbacks» für zuhause. Ich habe vermutlich alle Gadgets, die auf dem Markt erhältlich sind – keins funktioniert annähernd so, dass man es «Neurofeedback» nennen dürfte im Vergleich zu den Medizinprodukten, die echte Neurofeedback-Therapeuten benutzen. Vermutlich wird die KI einen immer grösseren Einfluss in die Behandlung nehmen, aber auch da bleibe ich entspannt. Die Zusammenhänge müssen ganz körperlich betrachtet und nicht losgelöst auf ein Organ betrachtet werden – selbst, wenn es das ultimativ spannende Gehirn ist. Unser Körper ist ein Netzwerk. Alles spricht mit allem. Somit dürfen wir sehr gespannt und gleichzeitig relaxed sein.

Wie sind Sie selbst auf dieses Segment gestossen?

Nach meinem Studium zur Logopädin habe ich 16 Jahre lang als Logopädin an einer Schule gearbeitet. Dabei habe ich stets viele Fortbildungen besucht, um immer auf dem neusten Stand der Forschung zu sein. Bei einer dieser Fortbildungen hörte ich gespannt Prof. Dr. Lutz Jäncke zu. Zu diesem Zeitpunkt war er der Ordinarius der Neuropsychologie der Universität Zürich. Er liess den entscheidenden Satz fallen: «Hätte eines meiner Kinder ADHS gehabt, hätte ich eine Medikation nicht ausgeschlossen, aber ich hätte es zuerst mit Neurofeedback behandelt.» Anschliessend ging meine Recherche los.

Und was waren die Erkenntnisse?

Da ich davon noch nie etwas gehört hatte, war meine Neugier riesig. Schnell fand ich eine Ausbildungsstätte in der Schweiz, die mit den Dozenten der Unis Zürich, Basel und Bern zusammenarbeitet, bei denen man berufsbegleitend ausgebildet wird. Nicht preiswert, aber hochinteressant. Da ich grundsätzlich ein eher kritischer Mensch bin, dachte ich, das hört sich fast zu gut an, um wirklich wahr zu sein. Während der Ausbildung behandelte ich mich selbst wegen meiner Migräne. Ich bin seit 2014 migränefrei. Das war mein persönliches Überzeugungsargument. Nebst den vielen Verbesserungen in anderen Fällen und bei anderen Problemen bin ich nach wie vor einer der grössten Fans von Neurofeedback. Deshalb liebe ich meine Arbeit und bin täglich dankbar, dass ich arbeiten kann, was ich als hoch erfüllend empfinde. Das wünsche ich auch jedem meiner Klienten, dass sie einer beruflichen Leidenschaft nachgehen können, die sie richtig glücklich macht, um am Ende des Tages sagen zu können, dass man seine Berufung gefunden und Sinnvolles getan hat.

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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