Der Bundesrat verschärft die Massnahmen vor den Festtagen und kündigt sicherheitshalber bereits an, dass er vielleicht noch einmal eine Schippe drauflegt. Das ist tragisch genug. Noch schlimmer macht es die Tatsache, dass das alles nicht evidenzbasiert geschieht.
Menschen schlucken unangenehme Forderungen, wenn sie verstehen, dass sie unumgänglich sind. Vor allem in der Schweiz, einem chronisch duldsamen Volk. Sie tun sich aber schwer damit, Folge zu leisten, wenn sich ihnen der Sinn nicht erschliesst. Das ist übrigens ein Zeichen von Intelligenz.
Das wird auf die Dauer das Problem des Bundesrats sein. Denn seit dem Frühling handelt er nicht auf der Grundlage klarer Beweise, sondern anhand von schwammigen Prognosen, unklaren Begriffen und untauglichen «Belegen». Eine Mehrheit schwimmt derzeit noch mit, wohl getragen von der andauernd angekündigten Apokalypse. Die Frage ist wie lange noch.
Denn während die gesundheitspolitische Katastrophe auf sich warten lässt, sind die wirtschaftliche und gesellschaftliche in vollem Gang. Die Gastronomie wird schleichend erwürgt. Eine Sperrstunde ab 19 Uhr, zumal in dieser Zeit des Jahres, macht einen wirtschaftlichen Betrieb für fast alle Betriebe unmöglich. Kulturveranstalter werden ihrer Existenz beraubt, sie dürfen gar nichts mehr. Was aber immer noch besser ist als der Witzvorschlag, vor zehn Besuchern Theater zu spielen. Dabei müsste das gerade Bundesrat Alain Berset wissen, der - wie wir dank der Erpressungsaffäre wissen - eine starke Nähe zur Kultur pflegt.
Familien dürfen würfeln, mit wem sie Weihnachten verbringen wollen. Den entstehenden Frust können sie allerdings nirgends abbauen, weil das Land stillsteht. Keine Zerstreuung ist mehr möglich.
Das alles wäre schlimm, aber nicht tragisch, wenn es die Situation wirklich erfordern würde. Aber nach wie vor geschieht das alles auf der Grundlage von Begriffen wie Fallzahlen und Reproduktionswert. Die Schweiz wird regiert von Formeln. Alles über der Zahl 1 ist teuflisch. Doch die Gleichung zerfällt zu Staub, wenn man sich vor Augen hält, dass die Ansteckungsrate, die laut dem Bundesrat exponentiell verläuft, auf den sogenannten Fallzahlen basiert, die wiederum auf den PCR-Tests gründen. Deren Defizite sind hinlänglich bekannt und belegt. Man kann bekanntermassen eine Kiwi, eine Quitte, weitere Früchte oder auch ein Glas Cola positiv testen, wenn man unbedingt möchte. Und die Leute am Hebel der Macht wollen offenbar.
Die offizielle Schweiz will kein Ende der Krise. Sie tut alles daran, dass der Mythos Corona aufrechterhalten bleibt.
Mit anderen Worten: Die Schweiz wird faktisch lahmgelegt, weil untaugliche Tests zu hohen, aber nichtssagenden Fallzahlen führen, die wiederum einen hohen Reproduktionswert generieren. Die Rechnung, die entsteht, muss zu einem falschen Resultat führen, weil die Ausgangsannahme - die Tests - nicht als Evidenz taugt. Das ist keine Raketenwissenschaft, das ist gesunder Menschenverstand.
Unwissenschaftlicher wurde selten eine Volkswirtschaft an die Wand gefahren.
Erstaunlich deshalb, mit welchem Ernst in Mimik und Stimme Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga am Freitag einmal mehr von einer dramatischen Situation schwadronierte. Falls sie keine herausragende Schauspielerin ist, glaubt sie offenbar selbst daran. Wobei sie das auch gefahrlos tun kann, denn die Zeche bezahlen ja andere. Wäre Sommaruga immer noch Pianistin und auf Bühnen angewiesen, würde sie vielleicht auch einige kritische Fragen stellen. Wir nehmen aber an, dass sie ihren Lohn pünktlich erhält. Chapeau für den Laufbahnwechsel, Frau Sommaruga.
Neue Munition erhielten die Panikmacher durch jüngste Meldungen von sich füllenden Intensivstationen aus einigen Kantonen, unter anderem aus St.Gallen. Die hohe Kunst der Panikkommunikation liegt darin, einiges zu sagen und vieles wegzulassen. Um diese Jahreszeit sind die Intensivstationen chronisch stärker belegt als im Sommer. Zum Beispiel «dank» der Grippe, die - ohne Volksabstimmung - abgeschafft wurde. Zudem sind Intensivstationen nie auf den Maximalfall ausgelegt, im Gegenteil. Es wird sorgfältig darauf geachtet, dass man keine Überkapazitäten hat, denn die kosten richtig viel Geld. Jedes unbelegte Bett einer Intensivstation ist ein Kostentreiber ohne Gegenwert.
Die Aussage «fast volle Intensivstationen» ist immer in diesem Kontext zu betrachten. Die Schweiz ist noch lange nicht an dem Punkt, an dem sie handlungsunfähig wäre. Jedenfalls nicht, was die Betreuung von Erkrankten angeht. Dass Menschen in der Pflege das anders sehen, ist verständlich: Sie ackern in der Tat unermüdlich. Aber nicht, weil uns ein Virus massenweise dahinrafft, sondern weil ihnen nicht die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die möglich wären. Sie müssten sauer sein auf den Staat, nicht auf die Menschen, die den Staat hinterfragen.
Wie lange geht das gut? Wie lange kann man abseits von harten Fakten immer härtere Einschnitte beschliessen, die ganze Branchen auszuradieren drohen? Wann tickt der erste Gastronom aus und stürmt das Bundeshaus? Die Schweiz ist eine Nation der Vernünftigen. Wir akzeptieren unser Schicksal, wenn wir es rational nachvollziehen können. Doch das ist immer weniger möglich. Denn nichts von dem, was geschieht, ist evidenzbasiert.
Der beste Beweis dafür sind die Ausnahmebestimmungen, die der Bundesrat bei der Sperrstunde beschlossen hat. Bis 23 Uhr geöffnet haben kann man künftig in Kantonen, die eine Reihe von Werten erreichen rund um Fallzahlen, Reproduktionswert und so weiter. Zufällig erfüllen die Westschweizer Kantone diese Kriterien am besten, die am lautesten - berechtigt - protestierten, als der Bund seine Verschärfungen bekanntgab. Alles richtet sich also nach Zahlen, die am Anfang der Rechnungskette bereits keinen Sinn machen. Denn wer positiv getestet ist, der ist weder zwingend krank noch zwingend ansteckend. Dafür sorgt unser irrwitziger Umgang mit einem Test, der noch nicht einmal für diagnostische Zwecke geschaffen wurde.
Es ist sehr einfach: Stimmt die Ausgangsannahme nicht, so stimmt die ganze Rechnung nicht. Das ist unsere Situation. Aber wir werden geführt von einem Bundesrat, der das nicht weiss.
Oder so tut als ob.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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