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Gastbeitrag

Erinnerungen an den «Club der toten Dichter»

In ihrem ersten Gastbeitrag dachte Sabine Baumann über «gesichtslose Menschen» nach. Zurück im Schulbetrieb stösst sie wieder auf Masken ohne Ende – und macht sich weitere Gedanken über die Auswirkungen.

Sabine Baumann am 03. Oktober 2021

„Ich bin nicht Lehrerin geworden, um Masken vor mir zu haben“, sagte ich zu meinem Arbeitskollegen, mit dem ich am Freitagmorgen im Speisewagen von unserem Wohnort zu unserem Arbeitsort fuhr. Normalerweise geniesse ich die Gespräche und den Cappuccino. Diesmal war es anders. Er hatte mir soeben eröffnet, dass am folgenden Montag wieder die Maskenpflicht eingeführt würde.

„Ja, ich auch nicht. Aber auch nicht, um diese Geräte vor mir zu haben“, erwiderte er. Ich gebe ihm recht: BYOD (Bring your own device / Bring dein eigenes Gerät) ist in aller Munde, die meisten kommen sich damit supermodern und supercool vor, die meisten machen mit. Und (viel) zu wenige erkennen die negativen Folgen davon. Ob sie sie nicht erkennen wollen oder nicht erkennen können, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich vermute aber, dass nicht wenigen tatsächlich die Weitsicht fehlt, um zu merken, wohin wir mit BYOD und der ganzen Technologie, die erstens sehr fehleranfällig und dadurch zeitraubend ist und zweitens die meisten Menschen überfordert (insbesondere diejenigen, die es nie und nimmer zugeben würden...), steuern - nämlich in eine immer distanziertere, kühlere, hektischere, oberflächlichere und asozialere Welt.

(Das am Rande. Vielleicht schreibe ich ein anderes Mal mehr darüber.)

Anyway: Ob vor 20 Notebooks oder vor 20 Masken – dafür haben wir unseren Beruf nicht gewählt, dazu fühlen wir uns nicht berufen.

Wir haben ihn gewählt, um jungen Menschen etwas zu vermitteln, etwas beizubringen, etwas vorzuleben. Um sie zu sehen, ihre Gesichtsausdrücke zu lesen, mit ihnen zu kommunizieren, mit ihnen zu interagieren, mit ihnen zu lachen.

Jetzt stehen oder sitzen wir also wieder vor Masken. Augen sind, wie schon in meinem letzten Beitrag erwähnt, zwar schön und drücken vieles aus. Vieles bleibt aber auch verborgen: Die Gesichtspartie um Nase, Mund und Kinn drückt eben mindestens ebenso viel aus. Wenn sie fehlt, fehlt ein wichtiger Teil.

In Berufen, wo der Mensch im Mittelpunkt steht, ist es besonders wichtig, das ganze Gesicht sehen zu können. Es erübrigt sich, all‘ die betroffenen Berufe aufzuzählen. Der Lehrerberuf gehört natürlich dazu – und je jünger die Schüler und Schülerinnen sind, desto mehr sind sie auf die Mimik angewiesen, umso mehr suchen sie sie auch. Umso mehr sind sie aber auch auf Zuwendung angewiesen – und Zuwendung über eine Maske kommt nie und nimmer an Zuwendung über ein Gesicht heran.

Und wie ist es wohl für Babies und Kleinkinder, die im Zug, im Bus, im Tram oder sogar in der Kita fast nur Masken sehen, Masken als Gegenüber haben? Was für ein Bild von den Menschen bekommen sie? Wie werden sie sozialisiert? Wie lernen sie, Gesichtsausdrücke zu deuten und dementsprechend zu reagieren? Lernen sie es überhaupt? Wohl kaum… Wie denn? Und was für Folgen wird es haben, dass sie es nicht ausreichend lernen?

Sprachunterricht mit Masken – was soll ich dazu sagen? Dass ich oft nicht verstehe, was die Lernenden hinter der Maske sagen? Dass ich oft nachfragen muss? Dass es zu mehr Missverständnissen kommen kann?

Es ist so absurd, dass es sich auch bei dem Thema eigentlich erübrigt, darauf näher einzugehen. Oder ist jemand der Meinung, Sprachen liessen sich mit Masken gleich gut lernen wie ohne? Ist jemand der Meinung, dass die Stirne und die Haare zum Sprachenlernen essenziell seien? (Und der Mund keine Rolle spiele?)

Und was ist mit Hörbehinderten und Taubstummen? Wie sollen sie noch von den Lippen ablesen, wie sollen sie noch kommunizieren können?

Ich hatte mich vor den Sommerferien so gefreut, endlich die Gesichter meiner Lernenden (die ich seit Februar unterrichte) zu sehen. Endlich zu wissen, wie sie aussehen. Und damit: endlich wenigstens ein bisschen zu wissen, wer sie sind. Ich hatte mich so gefreut, es war so schön, es war so anders. Es war so viel besser. So viel leichter, so viel freier.

Ich hatte die Hoffnung, die Lernenden meiner neuen Klassen von Anfang an richtig sehen und kennenlernen zu können. Das war für vier Wochen auch der Fall. Aber vier Wochen reichen nicht aus, um 80 neue Lernende, die man nur zwei Lektionen pro Woche sieht, wirklich kennenzulernen. Sie reichen nicht aus, um eine Beziehung aufzubauen. Und die Beziehung steht – es ist längst erwiesen und die ganze Didaktik und Methodik haben die Zwei auf dem Rücken (!) – vor allem anderen, wenn es darum geht, lehren und lernen zu können.

Als am Freitagnachmittag das offizielle E-Mail kam, das die erneute Maskenpflicht bestätigte, wusste ich: Die meisten Lehrer und Lehrerinnen in diesem Land würden wieder brav und folgsam mitmachen; einige würden sich dabei sogar noch wichtig und richtig vorkommen und, ich habs erlebt, andere zurechtweisen; viele würden nichts kritisch hinterfragen, sich zu nichts kritisch äussern. Und ich schreibe bewusst „die meisten“, „einige“ und „viele“ und meine eben „die meisten“, „einige“ und „viele“. Also nicht alle!

Ich weiss, dass es durchaus kritische Lehrer und Lehrerinnen gibt – und bin ihnen dankbar. Aber die Mehrheit stellen sie halt leider nicht dar. Das finde ich in einem Beruf, wo es auch darum gehen sollte, den jungen Menschen unabhängiges und kritisches Denken beizubringen und es zu fördern, sehr erschreckend. Offenbar sehen viele Lehrer und Lehrerinnen ihre Aufgabe nicht (mehr) darin, sondern im Vermitteln und Vorleben von Gehorsam, Anpassung, Obrigkeitsgläubigkeit, Hörigkeit oder sogar Opportunismus. Offenbar machen viele es sich zu einfach. Offenbar fehlt nicht wenigen (auch) das intellektuelle Vermögen oder das geschichtlich-gesellschaftliche Verständnis zu kapieren, was sämtliche Massnahmen mit unseren Grundrechten, mit Freiheit und mit der Einschränkung ebendieser zu tun haben.

Sie kapieren es schlicht nicht, sondern schütteln den Kopf und verdrehen die Augen, wenn jemand dies ausspricht. Das ist irgendwie unfassbar, insbesondere in einem Beruf, wo es, wie erwähnt, auch darum gehen sollte, kritisch und mutig zu sein, zu hinterfragen und Gegenpositionen zu den Massenmedien (die zur Zeit eine äusserst unselige Rolle spielen…) zu vertreten. Aber eben: Das ist anscheinend auch das, was heutzutage von Lehrern und Lehrerinnen erwartet wird - oder erwartet werden kann. (Ich weiss wirklich nicht, woran es mehr liegt…) Ich denke „nur“ an den Film „Der Club der toten Dichter“ / „Dead Poets Society“ und wünsche mir, es würde wieder mehr John Keatings geben. Mehr Keatings und weniger Kuschende.

Keating verlor seinen Job.

So ist es auch Lehrern und Lehrerinnen, die sich gegen die „Corona“-Diktate wehrten, ergangen.

Aber hey, wir leben im freien Europa.

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Autor/in
Sabine Baumann

Sabine Baumann (*1973) ist Berufsschullehrerin und wohnt in Winterthur.

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