Wir schreiben Kalenderwoche zwei – doch bereits hat 2021 unglaublich losgelegt: Noch vor wenigen Monaten hätten wir vieles davon schlicht als unglaubwürdig abgetan.
So liess die angeblich mächtigste Nation der Welt am Dreikönigstag zu, dass ein Gehörnter und weitere Verschwörungsanhänger des rechts-nationalistischen Spektrums ihr Parlament stürmt und verwüstet. Vergleichsweise forderte der Schneesturm auf der Iberischen Halbinsel weniger Todesopfer als dieser angekündigte Irrsinn.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten war die Saat jahrelanger Hetze und repetitiver Lügen in den Echoräumen (a)sozialen Medien aufgegangen. Nun lagert die Nationalgarde im Kapitol.
Manche mögen denken, es gebe noch andere faule Eier und Amerika sei weit weg - etwa wie China? Doch bis kommende Woche bleibt ein unberechenbarer, demokratisch gewählter Egomane Commander über Tausende atomar bestückter Raketen.
Und viele Experten glauben, der noch amtierende Mr. President wäre wiedergewählt worden, hätte nicht eine globale Pandemie seine Schwäche im Krisenmanagement entlarvt. Also Glück im Unglück? Wohl eher ein Warnschuss vor den Bug: Das politische und zwischenmenschliche Klima einer Gesellschaft bleibt wichtig. Wir sollten ihm Sorge tragen – im gegenseitigen Umgang ebenso wie in unserer Diskussionskultur.
Verständlicherweise leidet der Ton, wo Nerven strapaziert sind – und vielerorts nachvollziehbare Existenzsorgen helfen kaum. Da macht es Sinn, dass z.B. in der letzten Session das Parlament die Kurzarbeitsentschädigungen von Geringverdienenden aufbesserte. Und dass unsere Landesregierung diese Woche den Zugang behördlich geschlossener Betrieben zu Härtefallentschädigungen vereinfachte.
Doch weiterhin ändert sich die Wirklichkeit schneller als uns lieb sein kann. Immerhin rang sich der Bundesrat angesichts von Virusmutationen mit höherer Ansteckungsgeschwindigkeit dazu durch, diese mittels Verlängerung & Ausweitung der Gegenmassnahmen einzubremsen. Diesmal bevor uns die Entwicklung über den Kopf wächst.
Der Erfolg hängt in unserer freiheitsliebenden Gesellschaft davon ab, ob wir wie letztes Frühjahr mitziehen oder wie im Sommer viel Energie in egozentrisch-kontraproduktive Schlaumeiereien fliesst. Im Herbst war dann zu erleben, wie verzögert die Rechnung folgt – nach diesem Muster: Besonders ungünstig ist die Entwicklung dort, wo man sich (dank einst glücklicher Umstände) zu sicher fühlt. So auch in der Ostschweiz.
Trotz verbreiteter Massnahmenmüdigkeit lässt sich derzeit vermuten, dass über die Feiertage die Vernunft obsiegt hat. Dies macht Hoffnung, dass wir solidarisch und fähig genug sind, im verbleibenden Winter eine günstigere Ausgangslage für wärmere Jahreszeiten zu erwirken. Leider nicht von heute auf morgen, aber mit der nötigen Geduld und Ausdauer?
Mittelfristig hochwillkommene Unterstützung versprechen zunehmend verfügbar werdende Impfmöglichkeiten. Am effizientesten wohl, wenn wir nebst besonders Gefährdeten auch zentralen Multiplikatoren wie Pflege- und Lehrkräften Priorität einräumen. Und weil Vertrauen gerade in Krisenzeiten die zentrale Währung ist, sollte jede/r unter fachkundiger Beratung selbst entscheiden, ob und mit welcher Vaccine er oder sie geimpft wird. Konsequenterweise bedeutet solche Eigenverantwortung aber auch, die Realität neidlos zu akzeptieren, dass bei eliminierbarem Ansteckungsrisiko Zumutungen wie die aktuellen Quarantäne- und Maskenpflichten für geschützte Personen dann sinnlos werden.
Logisch: Wir alle wünschen uns raschmöglichst vieles anders als es ist. Manchmal hilft vielleicht die Erinnerung, wie privilegiert wir im mitteleuropäischen Vergleich bislang bezüglich Massnahmen blieben: Den Notfall eines echten Lockdowns, wo Menschen über längere Zeit zu Hause eingesperrt bleiben, kann man sich nicht wünschen. Auch wenn unsere Lage einst besser war: Noch ist das Glas halb voll - und darin glücklicherweise Platz für mehr. Dazu ist manches offensichtlich hilfreicher als anderes:
• Massnahmen statt Ansteckungsrisiken zu bekämpfen, bringt’s nicht wirklich.
• Nach Schuldigen zu suchen statt nach Lösungen ebenso wenig.
• Nüchtern überlegtes Abwägen nützt mehr als Geschrei und ultimatives Fordern.
• Früh vorausblickend kommt man weiter als reaktiv.
Denn Realitäten abzustreiten ändern die Wirklichkeit nicht. Deshalb sollten auch verbissene Interessenvertreter akzeptieren, dass eine Welt jenseits des eigenen Tellerrandes existiert. Und wer sich bequemerweise ausschliesslich in Blasen Gleichgesinnter orientiert, verpasst die Gelegenheit, einen Beitrag an zukunftsfähige Lösungen zu leisten statt vergangenheitsorientiert als Teil des Problems zu verharren. Denn sicher bleibt, dass auch unsere Zukunft irgendwie ‘anders’ wird. Doch niemand verbietet uns, aus der Vergangenheit zu lernen.
Zwar kann auch eine privilegierte Gesellschaft wie die unsrige stolpern (meist über sich selber). Doch selbst dann haben die Reserven, uns zügig aufzurappeln.
Noch besser funktioniert’s natürlich, wenn man sich gegenseitig dabei unterstützt.
Thomas Brunner (*1960) ist seit Dezember 2019 im Nationalrat. Er vertritt dort die Grünliberale Partei (GLP) des Kantons St.Gallen.
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