Drei offizielle «Gewalten» im Land, die von der inoffiziellen vierten Gewalt, den Medien, kontrolliert werden: Das war einmal. In Zeiten der Krise zeigt sich, dass dieser Prüfmechanismus rostig ist. Was es jetzt braucht, ist die fünfte Gewalt – die Stimmen «von unten».
Regierung, Parlament, Justiz: Sie sollen durch klar umrissene und abgegrenzte Entscheidungsspielräume dafür sorgen, dass das Land funktioniert. Sie dienen einander gegenseitig als Korrektiv. Gelingt das, kann keine dieser Gewalten im Alleingang alles umkrempeln. Und sollte das einmal nicht gegeben sein, haben wir noch die oft als vierte Gewalt bezeichneten Medien. Ihre historische Aufgabe war es stets, die Mächtigen in Schach zu halten, indem sie die Bevölkerung gut informiert halten. Wissen ist Macht.
Ein Virus hat nun dafür gesorgt – oder es vielleicht auch nur enthüllt –, dass diese Gewaltenteilung eine Schönwettersache ist. Verläuft alles normal, bewährt sie sich. Gerät eine der Gewalten plötzlich ausser Rand und Band, sind die anderen ganz offensichtlich überfordert. Dann lassen sie sich kurzerhand entmachten – wie die Bundesversammlung – oder vollziehen brav nach – wie die Justiz. Die drei Gewalten bilden inzwischen eine reibungslose Einheit, in der sich keine mehr in der Pflicht sieht, Gegensteuer zu geben.
Und die vierte Gewalt hat sich auch schon vor Monaten aus dem Spiel genommen. Sie versteht sich nicht mehr als Kontrollorgan, sondern als Erfüllungsgehilfe der anderen Gewalten. Das vereinzelte Aufflackern von leichter Kritik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Medien in der Schweiz in den vergangenen zwölf Monaten vor allem eines getan haben: Widerspruchsfrei Zahlen, Prognosen und Behauptungen aus dem Bundesrat, dem Bundesamt für Gesundheit und der Task Force wiedergeben – als Beleg für eine Jahrhundertgefahr. Vereinzelt sogar noch verbunden mit einem Verstärker: Wenn die Zeitungen mit den Behörden mal nicht einig waren, dann eher, weil ihnen noch nicht genug Panik herrschte.
Willkürlich wurden Einschätzungen der «richtigen» Wissenschaftler als Wahrheit definiert, Gegenstimmen als «umstritten» diffamiert. Was nicht ins Bild der verheerenden Pandemie passt, wird ausgeblendet oder als «Wunder» bezeichnet, um zu illustrieren, dass das keineswegs ein Beweis für andere Thesen sei. Ob der PCR-Test, die Vorgeschichte der Impfung, die erwiesenermassen untaugliche Reisequarantäne, Zweifel am Sinn der Maskenpflicht oder der Ruinierung der Gastronomie: Nie hatte jemand Lust, berechtigte Einwände zu thematisieren. Selbst wenn hie und da Kritiker zu Wort kamen, stets war unterm Strich die Direktive aus Bern das Mass der Dinge.
An die Stelle eines gesunden Misstrauens gegenüber den anderen Gewalten ist aus der vierten Gewalt einfach eine Wiedergabeplattform der offiziellen Haltung geworden.
Deshalb ist es Zeit für eine neue Gewalt. Die gibt es sogar bereits. Die Rede ist von der fünften Gewalt. Der Begriff kursiert seit einigen Jahren, hat aber nie richtig Fuss gefasst. Nun kommt ihm eine ganz neue Bedeutung zu. Die fünfte Gewalt: Das sind die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr länger nur einen Abstimmungzettel ausfüllen, einen Leserbrief schreiben oder sich am Stammtisch beschweren. Sie nutzen heute die sozialen Medie oder eigene Blogs und die von anderen, um sich verlauten zu lassen. Rein technisch gesehen mit denselben Voraussetzungen wie grosse Onlinemedien. Und das verbunden mit der Chance, dass ihre Stimme Verbreitung findet, abseits von arrivierten Medien.
Dass diese fünfte Gewalt wichtig ist und immer wichtiger wird, beweist die Tatsache, dass die vierte Gewalt gar keine Freude hat an dieser Entwicklung. Ihre Protagonisten, dass die zusätzliche Gewalt den Fokus nicht nur auf Regierung, Parlament und Justiz setzt, sondern sich diese Bürgerbewegung auch als Prüforgan der Medien sieht. Was logisch ist, denn wozu bräuchte es eine fünfte Gewalt, wenn die vierte ihren Job machen würde?
Zum Beispiel Tristan Brenn, der Chefredaktor von TV SRF. Schon 2017 zog er gegen die fünfte Gewalt vom Leder in einem langen Beitrag, der hier nachzulesen ist. Es ging damals um das Phänomen, dass der SRF-Ombudsmann in immer mehr Beanstandungen mit Sendekritik versank. Dafür ist er ja eigentlich da, aber offenbar wurde es intern doch irgendwie als unanständig und lästig wahrgenommen, dass man sich bei ihm beschwert. Verantwortlich gemacht für die Entwicklung wurde die Dynamik, die soziale Medien befördern: Kritik ballt sich, sie verhallt nicht mehr, weil sie nicht mehr nur vereinzelt zuhause geäussert wird. Sie ist heute teilbar, sie multipliziert sich.
Brenn spricht zwar beim Einstieg seines Textes von einer «Chance für den Meinungsbildungsprozess» durch die fünfte Gewalt, den Bürgerjournalismus. Aber davon ist danach nicht mehr viel zu lesen. Der SRF-Mann konzentriert sich stattdesssen auf seine Grundthese, die da heisst: Soziale Medien sind «Resonanzräume der Empörung», in denen es von Diffamierung und Falschaussagen nur so wimmelt. Die fünfte Gewalt verbreite Zweifel an der Arbeit der anderen Medien, bringe diese in Verruf, schreibt er. Sie habe den Begriff der «Lügenpresse» geprägt, dabei werde doch in Wahrheit auf Facebook, Twitter und Co. gelogen, bestimmt nicht in den Zeitungen.
Alles in allem sagt er: Die Medien als vierte Gewalt funktionieren bestens, es braucht keine fünfte, erst recht nicht, weil sie es wagt, die Medien zu kritisieren und dabei ausschliesslich auf verlogene Diffamierungen setzt. Da bleibt wirklich kein Stein mehr auf dem andern bei dieser Beurteilung. Immerhin, nicht zu vergessen, spricht Tristan Brenn da von seinen Gebührenzahlern.
Vermutlich würde der SRF-Chefredaktor das heute noch genau so schreiben. Das Problem ist nur, dass er inzwischen längst widerlegt wurde. Hier die vierte Gewalt, die ihren Auftrag modellartig ausführt, dort krakeelende Wutbürger in den sozialen Medien: Es stimmt einfach nicht. Es gab während Corona Dutzende von Themen, bei denen man selbst völlig unvoreingenommen zum Schluss kommen muss, dass die Medien nicht umfassend informiert haben und Teil einer Bundeskampagne waren. Umgekehrt gab es in «alternativen» Medien das kritische Hinterfragen und die Einblendung ungeliebter Stimmen, die man von den Medien erwarten würde. Die Frage ist dabei ja nicht einmal, wer am Schluss recht hat, oft weiss man das erst mit einiger Verzögerung. Aber die Vielfalt überhaupt zu ermöglichen, das ist die Voraussetzung für eine vernünfitge Auseinandersetzung, und das haben die wenigsten Zeitungen in der Coronakrise getan.
Lüge ist zwar ein scharfer Begriff. Aber das konsequente Ausblenden kritischer Stimmen und gleichzeitig die unkritische Wiedergabe nur einer Seite kommt zumindest im Ergebnis der Lüge sehr nahe, selbst wenn sie nicht beabsichtigt ist.
Warum empfindet Tristan Brenn – und er ist damit kaum allein – die fünfte Gewalt als Bedrohung? Wenn ihre Kritik an den Medien unberechtigt ist und sie nur auf Lügen basiert, müsste das doch früher oder später auffliegen. Die für kurze Zeit empörten Leserinnen und Leser würden dieses Spiel irgendwann durchschauen und reumütig zu den guten alten Medien zurückkehren, die sie völlig zu Unrecht diffamiert haben.
Wenn das nicht geschieht, könnte es dann nicht allenfalls sein, dass etwas dran ist? Dass die durchaus mündigen Konsumenten von Informationen zur Erkenntnis gelangt sind, dass sie nicht richtig oder vollständig informiert werden? Dass man sie hinters Licht führt? Dass sich die Medien und der Staat längst zu nahe sind, um einen sauberen Trennstrich zu ziehen? Dass sich die Medien diese Kritik vielleicht sogar gefallen lassen müssen, auch wenn sie nicht immer höflich formuliert ist?
Symptomatisch ist auch die dauernde Konzentration auf die Vertreter der fünften Gewalt, die in ihrer Kritik überborden. Die kein gutes Haar lassen an den Medien, alle blind gleich abqualifizieren und zu einem beleidigenden Wortschatz greifen. Die gibt es, und sie sind wohl nicht sehr hilfreich. Aber das Netz ist auch voll von sachlichen, fundierten Widerlegungen der aktuellen Leistung der Medien. Die werden aber geflissentlich überlesen. Und so kann man bequem behaupten, es handle sich bei der fünften Gewalt nur um tendenziell gewaltbereite Wirrköpfe. Genau wie ein einzelner Rechtsextremer an einer Kundgebung aus dieser heutzutage einen rechtsextremen Anlass macht.
Es braucht die fünfte Gewalt. Dringender als je zuvor. Die vierte Gewalt versagt seit Monaten. Darunter leidet die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kultur, die Psyche, der Staatshaushalt. Diese Dinge muss man schützen vor der Unverhältnismässigkeit der Massnahmen. Die Medien tun das nicht. Sie agieren entweder mit einem Plan oder kopflos, in der unmittelbaren Wirkung macht das keinen Unterschied.
Der erste Schritt wäre das Bewusstsein, dass es die fünfte Gewalt gibt und dass sie durchaus Macht hat. Derzeit läuft sie einfach automatisch, aber ohne das kollektive Wissen um die Kraft, die von ihr ausgeht. Vielleicht müsste sie ein Gesicht erhalten in Form eines verbindenden Elements. Wer sich als Teil dieser Gewalt sieht, und im Grunde sind wir das ja alle, könnte sich künftig beispielsweise mit dem Hashtag #diefünfte Gewalt in den sozialen Medien äussern. Um zu signalisieren: Ich bin nur eine einzelne Stimme, aber sie ist Teil eines ganzen Konzerts. Das Orchester mag nicht unbedingt schön klingen, weil nicht alle die gleiche Melodie spielen. Und dennoch hat jede Stimmlage ihre Berechtigung. Warum werden Hashtags eigentlich fast immer nur von Moralisierern genutzt, die einen Hype auslösen wollen zu einer vernachlässigbaren Frage?
Eine Gesellschaft, deren vierte Gewalt ihre Arbeit nicht richtig macht und gleichzeitig definieren will, wer etwas zu sagen hat und wer nicht und Kritik aus dem Volk nicht ernst nimmt oder abschätzig tituliert, braucht nichts dringender als eine fünfte Gewalt. Und diese darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass die vierte Gewalt keine Freude daran hat. Einst hatte auch die Politik keine Freude an den Medien mit ihrer lästigen Kritik und dem Hinterfragen von Entscheidungen, aber gerade deshalb brauchte es sie. Heute sind Politik und Medien beste Freunde. Oder Geschwister.
Dazu kommt, dass die fünfte Gewalt längst auch in den Fokus der Justiz geraten ist. Schleichend wird der Raster darüber ausgedehnt, was in den sozialen Medien «geht» und was nicht. Ganz zu schweigen von der moralischen Instanz, die kein Strafgesetzbuch braucht, um eine Bürgerstimme, eine banale Meinungsäusserung an den Pranger zu stellen. Zensur ist zwar unschön, aber immerhin ein wertvolles Indiz: Man hat offenbar etwas berührt, das irgendjemandem wichtig ist. Man hat einen Punkt getroffen.
Eine traute Familie sind die vier Gewalten heute. Aber jede Familie braucht ihr schwarzes Schaf. Das ist die undankbare, aber wichtige Rolle von #diefünfte Gewalt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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