Ein Streit um Denkmäler und die Personen, die sie darstellen, kann eigentlich nur stattfinden, wenn man die Geschichte kennt. Doch damit ist es heute schlechter bestellt denn je. Ein Appell an unsere (Geschichts-)Lehrer: Ändert das! Es ist möglich.
Mit der Behauptung, es interessiere eigentlich niemanden, ob Alfred Escher auf den Zürcher Bahnhofplatz herabschaue, habe ich letzte Woche einigen Widerspruch erregt. Täte ich wohl noch mehr, wenn ich dasselbe von Vadian und der St.Galler Marktgasse behaupten würde. Solche Geringschätzung der Geschichte sei gefährlich, ja frivol, schrieb mir ein Kritiker.
Er hätte Recht, wenn ich Geschichte tatsächlich geringschätzte. So wollte ich aber nicht verstanden werden. Meine Frage, wen es denn beisst, ob da ein Escher-Denkmal stehe oder nicht, wollte im Gegenteil gerade auf mangelndes Geschichtsbewusstsein hinweisen. Eben bin ich zurückgekehrt aus Berlin, wo mir ein befreundeter Journalist berichtete, dass das Wissen vieler junger Deutscher über den Holocaust und den Nationalsozialismus dramatisch geschrumpft sei. Daran ändern auch die Hakenkreuze und Reichsflaggen nichts, die von glatzköpfigen Dumpfbacken geschwungen werden.
Und wie steht es dann erst mit der deutlich weniger spannenden Geschichte der Schweiz? Wer war schon wieder Bundesrat Pilet-Golaz? Und wer Ernst Nobs? Die erste Frau in der Regierung? Was weiss man vom 19. Jahrhundert, ohne das unsere moderne Schweiz nicht zu verstehen ist? Etwa vom – auch europäisch so wichtigen – Jahr 1848? Ich habe im Geschichtsunterricht jedenfalls kaum etwas davon gehört. Über die Pfahlbauer und die alten Römer hingegen schon. Napoleon kam meines Wissens auch noch knapp vor. Oder war das erst, als ich «Krieg und Frieden» las? Und das 19. Jahrhundert kenne ich besser aus Gottfried Kellers «Martin Salander» (ein Roman mit vielen aktuellen Bezügen)?
Die hier nur kurz skizzierte Misere hat damit zu schaffen, dass Geschichte in der Schule fast überall chronologisch gelehrt wird. Von einem (angeblichen) Anfang her. Wie wenn man die Revision der Bundesverfassung von 1848 ohne die attische Volksversammlung niemals verstehen könnte. Oder den Ersten Weltkrieg nicht ohne die Schlacht am Morgarten. Dieses Verfahren nennt man «progressiv» - und in diesem Wort liegt der Hund begraben: Es stammt aus einer Zeit, in der die Entwicklung der Menschheit selbstverständlich und ausschliesslich als Fortschritt verstanden wurde. Dass dem so ist, daran zweifelt man nicht erst seit gestern. Im 19. Jahrhundert bereits begann ein Geschichtsverständnis, das jede Epoche für sich begreifen wollte. Wissen wollte, «wie es eigentlich gewesen».
Daraus sollten wir endlich den Schluss ziehen, dass man die Menschheitsgeschichte nicht bei Adam und Eva und auch nicht bei den alten Römern, ja nicht einmal bei den alten Eidgenossen beginnen lassen muss, um etwas davon zu verstehen. Wäre es denn nicht naheliegender, die Vergangenheit einmal von den Lebensumständen unserer Eltern und Grosseltern her zu erzählen? Als es noch keine Kühlschränke, kein Penicillin und keine Autos gab? Dafür aggressive Ideologien wie den Weltkommunismus, der 1989 zusammenkrachte, oder den österreichischen Weltkriegsgefreiten Adolf H., der ein grosses Kulturvolk mit sich in den Untergang riss? Mit anderen Worten: Geschichte im Rückwärtsgang, beginnend bei den unseren Kindern am nächsten liegenden Lebensverhältnissen von Papa und Omama? Verstünden unsere Kleinen dies wirklich schlechter als den Unterschied zwischen einer römischen Toga und einer Tunica?
Neue Zugänge zur Geschichte werden zwar da und dort, zögerlich genug, unternommen. Aber noch immer herrscht mehrheitlich die Doktrin vor, ein Zeitalter sei ohne das Wissen über alle ihm vorausgehenden Epochen nicht zu verstehen. Dass dann die Unterrichtsstunden nicht ausreichen, bis in die Nähe der Gegenwart vorzudringen, wird im Geschichtsunterricht noch allzu häufig als Kollateralschaden hingenommen. Und dass dann dumpfbackige Ideologen mit ihren hirnrissigen Lehren in die Lücke springen, ebenfalls. Die Resultate sind in jeder zweiten Tagesschau zu besichtigen.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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