Kölliker, Berset, Klöti.
Nach 16 Jahren als Regierungsrat zieht sich Bildungschef Stefan Kölliker (vorerst) aus der Politik zurück. Im Interview spricht der 53-Jährige über Veränderungen im Schulwesen, die HSG-Skandale und seine Krebserkrankung.
Im November 2022 gaben Sie bekannt, bei den Erneuerungswahlen nicht nochmals anzutreten. Was hat sie dazu bewogen, das so früh zu kommunizieren?
Ich wollte mir genügend Zeit nehmen, um mir Gedanken darüber zu machen, was ich in Zukunft machen will – und vor allem auch, was ich nicht machen will. Da ist der einstige Treuhänder spürbar. Ich planen gerne, habe gerne Ordnung und Klarheit und schaffe gerne Transparenz.
Kann man dennoch konsequent politisieren, wenn man bereits bekannt gegeben hat, dass man abtritt?
Die Frage stellt man sich natürlich. Wird man es in der täglichen Arbeit merken? Wird man zur «lame duck»? Nun, da ich noch rund drei Monate vor mir habe, kann ich rückblickend sagen: Ich hatte nie den Eindruck, dass die frühe Ankündigung eine Auswirkung hatte. Und es gibt da noch einen anderen sehr wichtigen Aspekt, der mich beeinflusst hatte.
Welchen?
Die grossen Geschäfte, die hängig waren und sind: die Totalrevision der Universität und die Totalrevision des Volksschulgesetzes. Hier war es entscheidend, dass man wusste, ob Kölliker künftig noch da sein wird oder nicht. Wäre nicht klar gewesen, wie hierbei meine Rolle in Zukunft ist, wäre man in eine ungewisse Phase geschlittert. Nach meiner Rücktrittsankündigung war klar, dass es nicht um Eigeninteressen geht, sondern darum, die Arbeiten so vorzubereiten, dass meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger eine gute Grundlage hat. Auch diesbezüglich hat sich sehr bewährt, dass ich so früh entschieden und auch kommuniziert habe.
Und wenn man es kommuniziert, kann man auch keinen Rückzieher mehr machen …
Dieser Gedanke hat sicherlich auch mitgespielt. Hätte ich für mich entschieden, aber nicht kommuniziert, hätte das Risiko bestanden, dass ich später wieder einen Rückzieher mache. Es war wohl auch ein gewisser Selbstschutz.
Am St.Galler Bildungstag im Herbst 2023 haben Sie nochmals mit grossen Visionen Akzente gesetzt. Einigen ist das sauer aufgestossen …
Ich habe während der 16 Jahre als Regierungsrat nicht einfach verwaltet. Ich wollte auch neue Ideen einbringen. Und viele gestaltende Exekutivmitglieder, die zurücktreten, möchten die gewonnenen Erkenntnisse noch nach aussen tragen. Man möchte sich positionieren und etwas für die Zukunft mitgeben. Bei mir hat sich das mit der Totalrevision des Volksschulgesetzes förmlich aufgedrängt. Ich sehe den Handlungsbedarf, die Volksschule – die Schule als Ganzes – zu entlasten. Und das geht nur mit bedeutsamen Massnahmen. Mit Pflästerlipolitik ist es da nicht getan. Die Verkündigung am Bildungstag war nicht gesucht. Es hat einfach perfekt zusammengespielt. Es war genau der richtige Zeitpunkt.
Sie wussten aber, dass es Gegenwind geben wird.
Den bin ich mir gewohnt. Aufgrund meiner Erfahrung und aufgrund des stetigen Austausches mit allen Partnern der Schule bin ich überzeugt, dass mein Vorschlag sehr sinnvoll ist. Wenn sich jemand kritisch äussert, hat das immer verschiedene Gründe. Es kann sein, dass einem jemand den Erfolg nicht zugestehen möchte. Oder aber man ist effektiv anderer Meinung. Aber nochmals: Ich bin überzeugt, meine vorgebrachten Ideen sind sehr durchdacht und sinnvoll.
Ein Kritikpunkt an Ihrer Person war, dass hier von oben herab entschieden wird, ohne die Basis mitzunehmen.
Es ist ein komplett neues Tagesschulmodell, das ich in den Raum gestellt habe. Der Schulalltag würde damit zeitlich auf den Kopf gestellt - neu gestaltet. Alle Beteiligten der Schule würden entlastet, neuer Raum und Zeit würde geschaffen, um in individuelle Förderung am Nachmittag zu investieren. Den Vorschlag kann man, so wie ich es gemacht habe, einfach einmal einwerfen. Entschieden ist damit noch nichts. Es folgt die Basisdiskussion und schliesslich wird beschlossen, was man umsetzen kann und will. Wenn man sich als oberster Verantwortlicher aber sicher ist, dass die Vorschläge durchdacht und gut sind, darf man sie auch einfach einmal aussprechen. Es gibt andere Bereiche, in denen es sinnvoller ist, als erstes die Meinung der Basis abzuholen. Hier war der andere Weg sinnvoller.
(Fortsetzung nach dem nachfolgenden Bild)
Lehrerinnen und Lehrer sind ein äusserst heterogenes «Volk». Macht es das umso schwieriger?
Die Schule bildet die Gesellschaft ab, wie kaum eine andere Organisation. Jeder ist in die Schule gegangen. Jeder kann mitreden und hat eine Meinung. Nichts ist so intensiv mit der Gesellschaft verknüpft wie die Schule. Also ist der Bereich per se schon anspruchsvoll. Und die Ansichten gehen weit auseinander. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Als Bildungschef muss man damit umgehen können.
Umso schwieriger dürfte es sein, effektiv Veränderungen zu bewirken?
Ja. Und entsprechend geschickt muss man taktieren.
Im aktuellen Wahlkampf wird vor allem über den Gesundheits- und den Bildungsbereich gesprochen. Bieten diese beiden Departemente am meisten Angriffsfläche?
Auch das ist schon immer so gewesen. Bei der Bildung nimmt der Staat eine wichtige Aufgabe für Kinder und Jugendliche wahr. Das bietet immer Angriffspunkte. Die Gesellschaft verändert sich. Die Ansprüche der Wirtschaft an die Jugendlichen verändern sich. Und das in den letzten Jahren noch sehr viel ausgeprägter. Viel Traditionelles wird inzwischen infrage gestellt. Das stellt alle Beteiligten vor grosse Herausforderungen.
Herausforderungen ist das Stichwort. Auch im Zusammenhang mit der HSG gab es während Ihrer Zeit mehrfach negative Schlagzeilen. Was dachten Sie jeweils, wenn wieder eine Krise zum Vorschein kam?
In Bezug auf meine Rolle hat es mich nie gross belastet. Ich sehe im Negativen immer auch das Positive. Aus Fehlern kann man lernen, kann die Rahmenbedingungen anpassen und verbessern. Zunehmend belastend war für mich die Schädigung des Rufs der HSG. Und die lange Zeitdauer und die Häufigkeit. Das war irgendwann schon zermürbend.
Das tönt jetzt sehr sachlich. Aber ehrlich: Hatten Sie niemals Lust, die Kaffeetasse an die Wand zu schmeissen, wenn wieder ein neuer Vorfall auftauchte?
(überlegt) Wenn man den einen Fall unter Dach und Fach hat und dann kommt die nächste Problemstellung … und es betraf ja jeweils einen ganz anderen Bereich. Das war natürlich nicht nur für mich eine Belastung, sondern vor allem auch für den Rektor.
In einem TV-Interview sagten Sie, dass Sie die Krebserkrankung verändert hat, dass Sie seither nicht mehr so vieles an sich herangelassen haben.
Die Einsicht und Veränderungen haben beim mir schon vorher angefangen. Ich merkte irgendwann, dass ich gewisse Sachen nicht mehr so nahe an mich heranlassen darf – Herausforderungen, Angriffe. Den Krebs hat es dazu nicht «gebraucht». Aber er hat mir zusätzlich gezeigt, dass es nicht gesund ist. Er hat geholfen, an mir zu arbeiten und anders mit gewissen Dingen umzugehen. Oftmals nagen Angriffe und Probleme mehr an einem, als man sich selber zugesteht.
Wie geht es Ihnen heute?
Sehr gut. Und ich muss sagen, mein Rücktrittsentscheid hat auch mit dem Schicksalsschlag von Regierungskollege Fredy Fässler zu tun. Es ist kein Zufall, dass ich meinen Entschluss kurze Zeit nach seinem folgenschweren Sturz verkündet hatte. Mir wurde damit einmal mehr vor Augen geführt, wie schnell es gehen kann. Mir wurde bewusst, dass es noch andere Sachen im Leben gibt.
Schliessen Sie in rund drei Monaten definitiv mit der Politik ab?
Sag niemals nie. Aktuell sind alle interessanten Ämter in unserer Partei besetzt. Und ich habe mich auch nie für einen Job ins Spiel gebracht, sondern alle Kandidaturen unterstützt. Heute und morgen sehe ich für mich kein politisches Engagement.
Sie sind 53. In anderen, grösseren Ländern können Sie auch in 20 oder gar 30 Jahren noch für ein gewichtiges politisches Amt kandidieren …
Wie zuvor erwähnt: Ausschliessen möchte ich nichts.
Welches Fazit ziehen Sie von Ihrer 16-jährigen Regierungstätigkeit?
Sehr intensiv und sehr herausfordernd - und das 16 Jahre am Stück. Aber auch unglaublich bereichernd. Highlights waren die vielen persönlichen Kontakte. Und ich bin dankbar, dass wir alle in den verschiedenen Institutionen vieles aufgleisen konnten. Uns ist vieles gelungen.
Was bereuen Sie?
Ob ich rückblickend etwas anders gemacht hätte?
Ja.
Nein, beruflich nicht. Was ich bereue, ist, dass ich nicht noch mehr Möglichkeiten geschaffen habe, Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich bemühte mich darum, konnte es aber nicht immer umsetzen.
Und nun – auch das habe ich gelesen – möchten Sie Klavierunterricht nehmen?
Mal schauen. Kürzlich bin ich an einem Musikgeschäft vorbeigelaufen - es hatte geschlossen. Ich habe mal ein Foto von einem Klavier gemacht. Das ist ein erster Ansatz (lacht).
Was macht Stefan Kölliker künftig?
Ich habe gegenwärtig sieben verschiedene Mandate, die mich wohl zu 50 bis 60 Prozent beschäftigen werden. Damit starte ich nun mal. Mir ist wichtig, künftig etwas mehr freie Zeit und mehr Flexibilität zu haben.
Und was für Mandate sind das?
Mandate bei einer sozialen Einrichtung, bei einer Kulturstiftung und im Bereich Sport. Hinzu kommen drei Engagements in der Privatwirtschaft. Und vor einigen Monaten wählte mich der Bundesrat zum Präsidenten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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