Vergreift sich der St. Galler Stimmbürger an religiöser Freiheit? Keineswegs.
Wenn die Worte Freiheit, Religion und persönliche Entscheidung in die Debatte geworfen werden, entsteht daraus ein Minenfeld. Wieso sollte es sich ein Kanton anmassen, religiös oder anderweitig begründete Kleidersitten zu verbieten? Wie kann dieser schwerwiegende Eingriff in die persönliche Freiheit, in religiös motivierte Bekleidungstraditionen legitimiert werden? Wo doch gerade westliche Gesellschaften und besonders die Schweiz doch so stolz auf ihre Toleranz sind.
Und nun das. Zwei Drittel aller St. Galler – und selbstverständlich auch St. Gallerinnen – haben sich für ein Verhüllungsverbot ausgesprochen.
Ist damit die Toleranz am Ende, hat der Islamische Zentralrat recht, wenn er das «islamophobe Niqab-Gesetz verurteilt» und auch gleich «Hilfe anbietet», sollte es zu «Diskriminierungen» wegen des «Tragens eines Niqab aus religiösen Gründen» kommen?
Ohne zu detailliert in muslimische Kleidersitten einzusteigen, ist der Niqab auch als Ganzkörperpräservativ bekannt, der nur einen schmalen Sehschlitz offen lässt. Ist das Verbot des Tragens in öffentlichen Räumen wirklich islamfeindlich? Was natürlich auch für den Tschador, die Burka und alle anderen Verhüllungen gilt?
Natürlich nicht. Aus einer Vielzahl von Gründen. Zunächst gibt es keine grenzenlose Freiheit. Nie und nirgends. Grenzenlose Freiheit wäre Unfreiheit, Faustrecht, Unterdrückung. Freiheit braucht Regeln und Grenzen, damit sie sich entfalten kann.
Freiheit hat auch ihre geschichtlichen und kulturellen Wurzeln. So wie es niemanden in den Sinn käme, islamischen Ländern unsere Kleidervorstellungen aufzuoktroyieren, gibt es im europäischen Kulturkreis die Sitte, sich unverhüllt und unverschleiert gegenüberzutreten.
Auch Toleranz findet ihre Grenzen dort, wo sie mit Intoleranz konfrontiert ist. Wer aus welchen Gründen auch immer, religiöse inbegriffen, nicht bereit ist, sich an Sitten und Gebräuche seines Gastlandes oder seines Landes zu halten, ist intolerant und muss in seine Schranken gewiesen werden. Freiheit und Toleranz bestehen aus Geben und Nehmen, nicht aus Fordern und Verweigern.
Wie üblich streiten sich zudem die Gelehrten, ob das Tragen eines Niqab oder anderer Formen der Gesichts- und Körperverhüllungen eine aus dem Koran abzuleitende Vorschrift oder lediglich ein Ratschlag sei. Gibt es also keine zwingende religiöse Begründung dafür, was soll es dennoch unabdingbar nötig machen, dass sich Frauen dergestalt verhüllen? Die Antwort ist so banal wie brutal: Sie muss ihre Weiblichkeit verbergen, damit der Mann nicht provoziert wird.
In dieser archaischen Vorstellungswelt begegnen sich also Mann und Frau in der Öffentlichkeit nicht als zwei menschliche Wesen, sondern die Frau als Sexualobjekt und der Mann als triebhaftes Alphatier.
Selbst ein Handschlag zwischen den Geschlechtern könnte schon dazu führen, dass wie in der Steinzeit der brünstige Mann die ihm körperlich unterlegene Frau sofort begattet. Ein Wunder, dass es vor allem im Sommer in unseren Breitengraden nicht zu massenhaften Vergewaltigungen kommt.
Jedes wie auch immer formulierte Verbot, dass zumindest dort, wo die aufgeklärte westliche Zivilisation herrscht, solchen Unfug untersagt, muss uns willkommen sein. Das ist weder Intoleranz noch Diskriminierung noch Beschneidung persönlicher Freiheit. Im Gegenteil, das ist die Verteidigung der Toleranz, die Verteidigung der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Also schlichtweg eine Selbstverständlichkeit.
Diese Selbstverständlichkeit musste übrigens im Christentum auch erst erkämpft werden. Wieso sie dann gegenüber einer anderen Religion wieder aufgegeben? Oder möchte jemand, so ausserhalb eines Niqab, freiwillig zurück ins Mittelalter?
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