Im heiligen Ernst diskutiert man in St.Gallen, ob die Zunahme von Gartenbeizen wertvollen Raum für die Öffentlichkeit wegnimmt. Die Frage sei erlaubt: Welche Öffentlichkeit bitte?
An Abenden und Sonntagen ist die Stadt St.Gallen ein Paradies für Leute, die an Klaustrophobie leiden. Nein, das ist nicht das krankhafte Verlangen, etwas zu stehlen (das wäre die Kleptomanie), auch wenn es danach klingt. Es ist die Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen, vor Enge. Wer das befürchtet, ist in St.Gallen gut aufgehoben. Während sich im beschaulichen Appenzell die Leute auf den Füssen stehen, weil die meisten Läden auch am Sonntag offen haben und die Atmosphäre auch abends nach Ladenschluss zum Verweilen einlädt, herrscht in der Kantonshauptstadt oft gähnende Leere. Und das selbst am Abendverkauf. Es gab Zeiten, da bangte man am Donnerstagabend um einen freien Parkplatz. Inzwischen müsste der Slogan lauten: «Völlig entspannt und zeitsparend einkaufen.»
St.Gallen blüht auf zur Mittagszeit, wenn sich die Unternehmenssitze und Verwaltungsbüros leeren und sich jeder irgendwo verköstigen muss. Nach Büroschluss ist die Stadt weitgehend menschenbefreite Zone. Mit Ausnahme der Abende, an denen etwas geht: Das St.Galler Fest, New Orleans und so weiter. Am Sonntag bedarf es einer ausgefeilten Planung, wenn man beispielsweise nach dem nachmittäglichen Besuch des Theaters irgendwo etwas essen will. Die Beizer haben den Sonntag weitgehend aufgegeben. Und sie haben damit eine tragische Spirale entfesselt: Je mehr Gasthäuser geschlossen sind, desto weniger Leute kommen nach St.Gallen - und wer bis heute durchgehalten hat, leidet darunter und überlegt sich auch, am Sonntag den Laden dicht zu machen.
Keine Sorge. Wir könnten die Innenstadt noch mit einer ganzen Reihe an lauschigen Gartenbeizen besetzen, und es bliebe immer noch genug Platz für die «Öffentlichkeit». Wer ist das eigentlich genau, der sich an Tischen und Stühlen stört und den Raum für sich beansprucht, um dort keine Ahnung was zu tun? Es gibt in St.Gallen Plätze, deren Absicht es wäre, belebt zu werden. Aber ohne entsprechende Infrastruktur kommt keiner auf die Idee, für Belebung zu sorgen.
Die dauernde Angst vor dem «Konsumzwang» ist nur noch absurd. Nach wie vor findet man in der Innenstadt genügend Flecken, um das mitgebrachte Bier zu stürzen. Man fragt sich aber eher umgekehrt, was eigentlich all die Planungsgremien und Arbeitsgruppen tun, die sich um die Attraktivität von St.Gallen kümmern sollten. Ein Blick ins nahe Ausland müsste sie schmerzen. Ein Treffpunkt kann nicht verordnet werden, er entsteht organisch - wenn die Rahmenbedingungen passen. Aber vielleicht müsste man nur die Ausrichtung ändern: Neues Zielpublikum sind Ruhesuchende und Poeten mit Schreibblockaden. Sie finden in St.Gallen die besten Voraussetzungen, um in der Stille zu sich selbst zu finden.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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