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Zum Abstimmungssonntag

Gefangen in Details – aber es geht um viel mehr

Wir bewegen uns aktuell von einem Meilenstein zum nächsten. Dabei bleibt kaum Zeit, durchzuatmen, nachzudenken. Der Sonntag wird darüber entscheiden, ob wir bereit dazu sind, endlich offen zu reden – oder die Unverhältnismässigkeit in Blei giessen wollen. Wir brauchen eine Vollbremsung.

Stefan Millius am 26. November 2021

«Die letzten Gedanken vor dem Tag X» war ein Artikel im September in dieser Zeitung betitelt. Allmählich scheint es, als taumelten wir von einem Tag X zum nächsten, angetrieben von Horrorszenarien und Panikschlagzeilen, die in schöner Regelmässigkeit nicht eintreffen. Man hält uns ausser Atem, gibt uns keine Zeit, über Grundsätzliches zu sprechen.

Am Sonntag könnte die Schweiz als einziges Land weltweit auf demokratisch legitimiertem Weg einen Marschhalt verordnen, eine Art «Time out» verlangen, um endlich als Gesellschaft einen für alle akzeptablen Weg zu diskutieren. Die Chancen darauf sind verschwindend klein. Dafür ist die Übermacht derer, die das nicht wollen, einfach zu erdrückend.

Aber deshalb darauf zu verzichten, öffentlich nachzudenken, wäre verheerend. Wer aufgibt, hat schon verloren. Ein kritischer (um es höflich auszudrücken) Leser hat mir eine Wette über 100 Franken angeboten, was das Abstimmungsresultat angeht. Er ist von einem Ja überzeugt. Ich bin ein Spieler, aber auf diese Wette konnte ich nicht eingehen. Ein Ja ist aus auch meiner Warte das wahrscheinliche Ergebnis, ich kann leider nicht dagegen wetten. Der Ausgang ist nichts als logisch: Man kann nicht ein ganzes Volk über 1,5 Jahre hinweg weichklopfen, ohne dass es sich auswirkt.

Die direkte Demokratie kommt am Sonntag an ihre Grenzen. Sie setzt voraus, dass die Menschen frei und selbstbestimmt eine Wahl treffen können. Das ist beim besten Willen nicht gegeben, wenn kritische Geister auf breiter Front diffamiert und ausgegrenzt werden, wenn zuerst die Freiheit gestohlen und dann die Rückgabe derselben Freiheit bei einem bestimmten Resultat versprochen wird. Für viele Menschen da draussen gibt es keine echte Wahlfreiheit. Sie sind fest überzeugt, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt als ein Ja. Und das ist nicht ihre Schuld. Man hat sie dazu gemacht.

Die einzige Hoffnung, die bleibt: Dass sich die Menschen, die am Sonntag ihre Stimme noch abgeben, grundsätzliche Fragen stellen. Vergessen wir das Zertifikat für einen Moment, die Maskenpflicht, die restlichen Einschränkungen. Tun wir so, als gäbe es das alles nicht. Blenden wir den irren Impfmarathon des Bundes aus. Überlesen wir die jüngsten Schocknachrichten über eine natürlich um mehrere hundert Male ansteckendere Variante des Virus aus Südafrika. Das hatten wir alles zur Genüge. Immer dann, wenn die Zweifel wachsen, zaubern Regierungen und die ihnen verbundenen Medien ein neues Ass aus dem Ärmel: Jetzt wird es aber wirklich ganz schlimm!

Wer das noch ernst nimmt, ist wirklich sehr duldsam. Fällt wirklich einer Mehrheit die Mechanik dieser Kampagne nicht auf?

Wir blenden es also aus und stellen uns grundsätzliche Fragen.

  • Wollen wir das, was uns gross und stark gemacht hat, die Mitbestimmung des Volkes und Entscheidungen, die auf langen, harten, aber fairen Debatten basieren, in Zukunft einfach obsolet machen? Uns ganz unter die Fittiche eines Bundesrats begeben, der in den vergangenen Monaten geirrlichtert hat, Zuckerbrot und Peitsche verband, die Willkür zum Standard machte, Mal für Mal untaugliche Massnahmen verordnete, um nach dem Scheitern einfach mehr vom selben einzuführen?

  • Wollen wir Grundrechte und unsere Verfassung zu bedeutungslosen Papiertigern machen, die beim geringsten Anlass – oder auch ohne diesen – nicht mehr gelten? Die Eigenschaft dieser Werte, die mit gutem Grund erschaffen wurden, ist gerade, dass sie immer gelten, unabhängig von der aktuellen Situation. Sie sind der Kitt, der uns zusammenhält, die klare Ordnung, die man nicht einfach mal schnell ausser Kraft setzen kann.

  • Wollen wir die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft an der Urne zum Normalfall machen? Menschen, die nichts anderes tun als das Recht auf den eigenen Körper einfordern, demokratisch legitimiert zu Unpersonen erklären? Sündenböcke und schwarze Schafe per Stimmzettel definieren, um fortan Schuldige für alles und jedes zu haben?

  • Sind wir bereit, uns von subventionierten Medien, die nach noch mehr Geld lechzen, führen zu lassen, von ihrer Berichterstattung, die alles, was der offiziellen Politik zuträglich ist, hochspielt und alles, was dieser widerspricht, auslässt und zensiert?

Eine Regierung, die ihre Verwaltung dazu anweist, den Stimmzettel so zu gestalten, dass er die wesentlichen Punkte auslässt und Dinge in den Vordergrund rückt, die beim näheren Hinsehen gar nicht zur Debatte stehen beziehungsweise problemlos anders gelöst werden könnten: Man sollte ihr misstrauisch begegnen, um das Wenigste zu sagen. Wer nicht mit offenen Karten spielt, hat etwas zu verbergen. Wer von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt ist, kann es sich leisten, transparent zu sein. Diese Abstimmung war nie auch nur im Ansatz transparent.

Seien wir ehrlich: Wenn nur schon 40 Prozent der Stimmbevölkerung das Referendum unterstützen und Nein sagen, wäre das ein unglaubliches Misstrauensvotum gegen die aktuelle Politik. Denn diese 40 Prozent würden sich dem entgegenstellen, was uns an allen Fronten seit Monaten als einzige Wahrheit, als einziger Weg verkauft wird. Dem zu widerstehen kostet Kraft. Aber natürlich, alles unter 50 Prozent ist in einer Volksabstimmung einfach nicht ausreichend. Man wird am Sonntag also wohl verkünden können, dass eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer den Bundesrat unterstützt.

Aber in Wahrheit ist sie einfach müde, diese Mehrheit. Sie will, dass alles aufhört, und sie schlägt sich auf die Seite derer, die das versprechen. Es ist der scheinbare einfache Weg. Aber er öffnet die Büchse der Pandora.

Denn es wird nicht aufhören. Alles andere als das. Es wird weitergehen, dann erst recht. Ein Marschhalt ist nur mit einem Nein möglich. Nur dann haben wir die Möglichkeit, auf der grünen Wiese den Plan darüber einzuzeichnen, wer und was wir eigentlich sein wollen. Das zu skizzieren, was wirklich wichtig ist. Was dringend nötig wäre. Denn was jetzt in Scherben geht, wird sich niemals wieder kitten lassen. Ein Ja ist ein Ja zur Willkür, zur Unverhätnismässigkeit, zur Aushebelung der demokratischen Prozesse, die uns weltweit einzigartig gemacht haben.

Aber dieser Marschhalt ist natürlich gar nicht möglich, wenn man den Mächtigen glaubt. Denn die Zeit läuft uns davon. Die Intensivstationen werden aus allen Nähten platzen (was sie nie getan haben), nötige Operationen verschoben (was nie wirklich nötig war), krasse neue Varianten (gegen die die aktuelle Impfung ja offenbar nicht mal hilft) überrollen uns. Die einzige Lösung liegt nach dieser Logik darin, dass wir dem Bundesrat, der uns bisher so zielsicher durch die Krise geführt hat, noch mehr Kompetenzen übergeben und alles aushebeln, was dem im Weg stehen könnte.

So geht die Sage, und man kann ihr nur noch mit nackter Ironie begegnen. Denn diese Sage hält der Wahrheit natürlich nicht stand, aber wer fragt denn inzwischen noch danach?

Es war viel von Vertrauen die Rede in den vergangenen Monaten. Vertrauen wir den Menschen, die wir per Wahl in ein Amt gesetzt haben? Vielleicht müsste man die Frage anders stellen: Vertrauen die Leute, denen wir das Vertrauen geschenkt haben, uns? Wenn sie das tun, warum informieren sie uns dann nicht ehrlich? Warum installieren sie breitflächig untaugliche Angstsymbole wie die Maske und schliessen Restaurants und grenzen Menschen, die in keiner Weise bedrohlich sind, vom täglichen Leben aus, ohne jeden positiven Effekt? Warum stellen sie uns keine korrekte Abstimmungsfrage? Warum spannen sie mit verbrüderten Medien zusammen, um uns in Panik zu versetzen? Warum trauen sie uns nicht zu, angesichts der Wahrheit, der wirklichen Zahlen und Fakten, das Richtige zu tun?

Am Sonntag wird man es so darstellen, dass eine Mehrheit das Vertrauen in diese Regierung besitzt. Doch mit Vertrauen hat all das wenig zu tun. Eher mit dem Stockholmsyndrom. Man macht sich aus der Verzweiflung gemein mit dem, der einen in der Gewalt hat. Ohne es selbst zu merken.

Da draussen rennt eine mutmassliche Mehrheit herum, die glaubt, Freiheit durch Zwang erringen zu können. Nie in der Geschichte hat Zwang Freiheit hervorgebracht. Nie ist Solidarität aus Zwang entstanden. Freiheit entsteht durch die gemeinschaftliche Einsicht darüber, was für alle das Beste ist. Wenn diese Erkenntnis erzwungen werden muss, ist sie nichtig.

Nur ein Nein gäbe uns die Atempause, um das zu erkennen. Dieses Nein wird es voraussichtlich nicht geben. Was natürlich bedeutet: Wir bleiben in der Willkür. In der Unverhältnismässigkeit. Und wir geben auf lange Sicht die Instrumente aus der Hand, die es uns ermöglich würden, das alles zu stoppen.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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