Claude Nicollier.
Grenzen sind allgegenwärtig, und der Mensch versucht immer wieder, sie zu überschreiten. Grenzen waren auch Thema des Wirtschaftsforums Thurgau. Die 23. Ausgabe mit den Spitzenreferenten Günter Verheugen, Claude Nicollier, Daniel Kalt und anderen verzeichnete einen neuen Besucherrekord.
Eröffnet wurde das 23. Wirtschaftsforum von Martin Lörtscher, Gewerbeverband-Vorstandsmitglied. Durch den Anlass führte Moderatorin Mona Vetsch. Der Thurgau, so die überzeugte Thurgauerin, sei nicht das Zentrum der Welt, aber er sei offen, ein Kanton, der Gas gebe und Grenzen überschreite – ein wahrer «Grenzkanton». Eine nicht überschreitbare Grenze aber sei die in die Zukunft, da müsse man Annahmen treffen – wie Daniel Kalt, Chefökonom der UBS.
Keine Rezession – positives 2020
Daniel Kalt begann seinen Vortrag mit einem Blick zurück – ins Jahr 1500: Das Pro-Kopf-Wachstum in der Schweiz von fast 0 auf rund 70 000 in sechs bis sieben Generationen sei ein eigentliches Wunder gewesen. In den nächsten Jahren verschiebe sich das Wachstum aber drastisch nach Osten: 2050 würden China, Indien und Co. rund 75% des Wachstums ausmachen. Er zeigte auch auf, wo wir überall an Grenzen stossen: bei den Vorsorgesystemen, beim Ressourcenverbrauch und beim Konjunkturaufschwung. Kalt prognostiziert eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, aber keine Rezession. Für 2020 ist Kalt grundsätzlich positiv eingestellt, dies dank der robusten politischen Institutionen und der ungebrochenen Adaptionsfähigkeit und Innovationskraft der Schweiz.
Geschichtenerzähler Andy Holzer
Für Andy Holzer gab es als Kind eine grosse Grenze: das Augenlicht. Aber er hat den Mut nicht verloren, denn «das kleine Kind» habe ihn vorangebracht. Als kleines Kind wisse man noch nicht, was Gewinn und Verlust, was Hell und Dunkel seien. Damals habe es geheissen: Der Andy kennt sich in der Dunkelheit aus. Im hellsten Licht aber bestieg Holzer 2017 den Mount Everest. Dadurch, dass er nie in ein Blindenheim kam, hat er ein ganz anderes Blindsein erlebt – ein offenes, helles, kreatives. Er habe nie gelernt, mit dem Stock zu gehen, dafür dynamisches Bergsteigen, Führen und gepflegte Abhängigkeit, gemeinsam am gleichen Strang zu ziehen – wichtige Leitgedanken, die er mit fantastischen Bergsteigerbildern untermalte.
Rollen- und Landesgrenzen gesprengt
Maria Brühwiler, Geschäftsführerin von Brühwiler Sägewerk und Brühwiler Fensterholz, entschied sich kurz nach ihrer Lehre in der Gastronomie, in den elterlichen Betrieb einzusteigen – und in einer eigentlichen Krisensituation die Sägerei zu übernehmen. Sie habe dabei langjährige Firmengrenzen überschritten, neue Produkte entwickelt und so neue Kunden gewonnen, so Brühwiler. Anders Thomas De Martin, der früh erkannte, dass er in das Familienunternehmen einsteigen wolle. Fluch und Segen zugleich bei der De Martin AG sei, dass man eine gewisse Grösse brauche und zum Teil auch weltweit agieren müsse. Das sei eine Grenze gewesen, mit der er zuerst klarkommen musste.
Mit Angst umgehen
In der Diskussion mit dem Publikum wurde auch das Thema Angst angesprochen. Die Angst gelte es in keinem Fall zu besiegen, sie sei der beste Freund, meinte Andy Holzer. Angst lehre einen, Denkmuster zu verändern und mit Emotionen umzugehen. Thomas De Martin machen der Fachkräftemangel und der Trend hin zur Dienstleistungsgesellschaft Angst. Der Schweiz fehle ein bisschen der Biss. Laut Daniel Kalt sei Angst überall in der Gesellschaft vorhanden. Es müssten kollektiv Entscheide gefällt werden bei extrem unterschiedlichen Interessenlagen. Dies sei sehr schwierig.
Erweiterung menschlicher Grenzen nach oben
Im Dezember 1999 war Claude Nicollier zum letzten Mal im All und reparierte das Hubble-Teleskop. Er habe viel Glück gehabt, dies zu erreichen, denn es gebe nur 580 Menschen, die je im Weltall waren. Neben der Ausbildung zum Astrophysiker habe ihm vor allem diejenige zum Militärpiloten geholfen, 1978 bei der ESA aufgenommen zu werden, so Nicollier. Laut ihm ist die Schweiz eine Weltraum-Nation. Dies sei bereits bei Apollo 11 mit dem Sonnensegel der Uni Bern zum Ausdruck gekommen. Die Sterne, wenn er sie jetzt sehe, weckten noch immer Emotionen in ihm, so Nicollier.
Europa ante portas – Verheugen warnt
Im Anschluss erklärte Günter Verheugen die Sterne der Europaflagge und fragte, wie das Leben in 100 Jahren aussehe. Wir seien in einer Zeit des Umbruchs, überall herrsche ein Gefühl der Dringlichkeit – auch in der EU und der Schweiz. Nach 1989 habe man auf eine «Ära des Friedens» gehofft, die grossen Wohlstand gebracht habe. An die Stelle von Sicherheit sei aber breite Verunsicherung getreten, so Verheugen. Es fehle der Plan für Europa. Jemand müsse voranschreiten, das gehe nicht ohne Deutschland und Frankreich, aber sie, da uneinig, nähmen dies nicht wahr. Der Mangel an Zusammenhalt sei ein weiteres Trauerspiel – das zeige der Brexit. Zu denken, es sei attraktiv, wenn die Briten austreten, sei gefährlich für die Schweiz, denn die EU werde kaum mehr Zugeständnisse machen.
Schweiz brauche positives Verhältnis zur EU
Europa müsse den Ehrgeiz aufbringen, die gesamteuropäische Perspektive wiederzugewinnen, um auch global handeln zu können, so Verheugen weiter. Dazu müssten in Europa kooperative Strukturen geschaffen werden. Wieder mit Blick auf die Schweiz meinte er, es sollte in unserem Interesse liegen, ein positives Verhältnis zur europäischen Integration zu haben. Obwohl nicht EU- oder EWR-Mitglied, sei die Schweiz überall integriert. Wichtig sei, dass ein Rahmenabkommen zustande komme. Aus seiner Sicht sei es unwahrscheinlich, dass das auf dem Tisch liegende Abkommen nochmals verhandelt werde. Seine Hoffnung sei, dass die neue Kommission einen neuen, verständnisvollen Blick auf die Problematik Schweiz-EU werfe. Dazu solle man die Kommission ermutigen.
Die Schweiz hat sich zwar gewappnet und eine Reihe neuer Abkommen unterzeichnet, um die gegenseitigen Rechte und Pflichten zu sichern – diese betreffen u.a. Handel, Migration, Strassen- und Luftverkehr und treten in Kraft, wenn Grossbritannien die EU ungeordnet verlässt oder nach Ablauf einer vereinbarten Übergangsperiode. Die Abkommen enthalten jedoch wenig Konkretes zu Dienstleistungen, die rund die Hälfte des gesamten Handels ausmachen. Zudem ist die Schweiz bei vielen Güterstandards an die Regeln des EU-Binnenmarkts gekoppelt, um sich den Marktzugang zu erleichtern. Doch das künftige Handelsverhältnis von Grossbritannien zur EU steht noch nicht fest.
Ebenso unklar ist die Zukunft für den Handel mit Landwirtschaftsprodukten und Lebensmitteln. Ein Drittel aller in Grossbritannien verzehrten Lebensmittel stammt nämlich aus der EU, die besten Äpfel wohl aus dem Thurgau. Für sie würden neu zusätzliche Nachweise und damit Kosten an der Grenze nötig, wo bisher, dank Zollunion, keine Zölle oder Kontrollen fällig waren. Weil der britische Lebensmittelhandel auf tiefen Margen beruht, haben geringe Zeit- und Kostenerhöhungen bereits grosse Auswirkungen. Da das Logistiksystem so effizient ist, ist die Lagerkapazität begrenzt – höhere Preise und ein kleineres Angebot an frischen Lebensmitteln wären die Folge.
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