Die heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter in den Anfängen ihrer politischen Karriere.
Mit der Wahl von Susanne Hartmann zur St.Galler Regierungsrätin hat eine weitere Wilerin den Wechsel in die überregionale Politik geschafft. Erstaunliche viele Politkarrieren haben in der St. Galler Kleinstadt begonnen. Eine Analyse.
Als ein «Biotop für grosse Karrieren» bezeichnete der Blick einst die Äbtestadt. Mit rund 24'000 Einwohnern zählt Wil zu den Städten von mittlerer Grösse, zu denen beispielsweise auch Rapperswil-Jona und Frauenfeld gehören. Erst seit der Fusion mit Bronschhofen 2013 hat Wil diese Grösse erreicht, über das das Tagblatt spöttisch schrieb, es sei ein als Stadt getarntes Dorf.
Wil fühlt sich stets etwas im Schatten seines grossen Bruders St. Gallen. Damit erstaunt es umso mehr, dass mit Karin Keller-Sutter (FDP), Barbara Gysi (SP) und Lukas Reimann (SVP) gleich drei Wilerinnen und Wiler langjährig auf Bundesebene mitmischen und keineswegs zu den Hinterbänklern zählen.
Barbara Gysi ist seit 2012 Vizepräsidentin der SP Schweiz, Lukas Reimann präsidiert die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS). Nationale Bekanntheit erreichte er unter anderem auch als engagierter Mitbegründer des Initiativkomitees gegen den Bau von Minaretten. Barbara Gysi ihrerseits kandidierte 2018 als Nachfolgerin von Paul Rechsteiner für das Amt der Präsidentin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Sie leitet zudem den Personalverband des Bundes. Zeitweise gehörte zur Wiler Delegation in Bern zusätzlich auch die Ärztin und Grünen-Politikerin Yvonne Gilli.
Stadtparlament als Praxiserfahrung
Keine Stadt vergleichbarerer Grösse ist in der nationalen Politik so breigefächert präsent. Die Gründe dafür dürften vielfältig sein, und auch der Zufall spielt mit. Karin Keller-Sutter, Barbara Gysi, Yvonne Gilli und Susanne Hartmann, designierte St.Galler Regierungsrätin, lernten die politische Praxis im Wiler Stadtparlament kennen. Dieses ist für seine teils sehr kontrovers geführten Debatten bekannt. Sowohl Gilli wie auch Gysi bezeichneten in Interviews die Erfahrungsphase im Stadtparlament in ihrer Karriere als förderliche Zeit. Auch die Unternehmerin und spätere Ständeratskandidatin Sarah Jyoti Bösch politisierte kurzzeitig in diesem Gremium. Damals war sie noch Mitglied der SVP.
Lebendiges politisches Leben
Schon vor der Einführung des Stadtparlaments im Jahr 1985 galt Wil als «ein lebendiges politisches Pflaster», so zumindest bezeichnete es die FDP-Bundesrätin Keller-Sutter gegenüber der NZZ. In Interviews verwies sie darauf, in einem Gewebebetrieb gross geworden zu sein, wo häufig über Politik geredet wurde. Allerdings stand das Elternhaus der CVP nahe. Während langer Zeit konnte die CVP bei den Wahlen und Abstimmungen in Wil auf einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung zählen.
Barbara Gysi ihrerseits sammelte auch zusätzlich Exekutivfahrung als Wiler Stadträtin. Sie war eine Amtskollegin von Marlis Angehrn (CVP), die später das Schulamt der Stadt St.Gallen leitete. Susanne Hartmann (CVP) wird ihren künftigen Arbeitsweg mit Regierungsrat Stefan Kölliker (SVP) teilen, der im Wiler Ortsteil Bronschhofen wohnt.
Prägende Figur für die Entwicklung der Schweiz
Bereits vor Karin Keller-Sutter schaffte es ein Wiler in die höchsten Ebenen der Schweizer Politik. «Der Kanton St. Gallen und die Eidgenossenschaft verloren mit ihm einen der fähigsten Staatsmänner der Zeit», resümierte ein Biograf das Wirken von Carl Georg Jakob Sailer. Der 1870 verstorbene Jurist gehörte zu den prägendsten Figuren des Kantons St. Gallen und der Eidgenossenschaft, die beide damals noch sehr jung waren. Er lebte in einer Zeit, in der sich die politischen und gesellschaftlichen Strukturen erheblich veränderten. Der 1817 Geborene entstammte einer Familie von äbtischen Bediensteten. Er studierte in Freiburg im Breisgau und in Jena Rechtswissenschaften. Anschliessend war er in St. Gallen in einer Kanzlei angestellt, bevor er sich in Wil als Anwalt beruflich selbständig machte.
Zahlreiche Ämter bekleidet
1848, ein Jahr vor der Wahl von Sailer zum Wiler Stadtoberhaupt, war das Geburtsjahr der modernen Schweiz, sie erhielt eine zeitgemässe Bundeverfassung. An deren Entstehung hatten die Liberalen massgeblich mitgewirkt; Sailer gehörte dieser politischen Bewegung an. Der engagierte Politiker hatte im Laufe seiner Karriere zahlreiche politische Ämter inne: er war Mitglied des Kantonsrat, als Regierungsrat stand er dem Justiz- und Polizeidepartement vor, er wurde zudem in den Nationalrat gewählt, anschliessend als Ständerat.
Im Weiteren war er Richter am obersten Gericht der Schweiz, nachdem er zuvor bereits Erfahrung als Richter am St. Galler Kantonsgericht gesammelt hatte und dieses zeitweise präsidierte. Er war auch katholischer Administrationsrat. Zudem war er zeitweise Redaktor des freisinnigen Sprachrohrs «Pilger an der Thur».
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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