Autor/in
Nadine Linder
Nadine Linder ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
Nadine Linder ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
Der St.Galler Stadtparlamentarier Gallus Hufenus will wissen, wie es um das geistige und soziale Wohlbefinden in der Stadt aussieht. Der ungewöhnliche Vorstoss ist das Eingangstor für ein Gespräch über die Zeit vor, während und nach dem Virus – und die Perspektiven der Gesellschaft.
Gallus Hufenus.
Mit einer einfachen Anfrage an den St,Galler Stadtrat will Gallus Hufenus (SP) wissen, wie sich das Coronavirus beziehungsweise die Massnahmen dagegen auf die Menschen in der Stadt, auf ihr Befinden und auf ihr Zusammenleben auswirkt. Er erkundigt sich zudem nach den Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen und anderen Anlaufstellen. ImGespräch mit dem Lokalpolitiker und Betreiber des «Kaffeehaus» im St.Galler Linsebühl .
Gallus Hufenus, wie erleben Sie die Stimmung in der Stadt St. Gallen?
Einerseits wird die Identität einer Stadt gebeutelt – Raum für Geschichten vieler Menschen auf engen Raum zu sein. Abgesehen davon erlebe ich hier eine Art Wellen: Im Frühling 2020 war menschliche Nähe zu spüren, über den Sommer und im Herbst waren es Aggressionen und Ängste, verurteilt zu werden, wenn man nicht zum «Mainstream» gehört. Mittlerweile sind wir liebevoller miteinander, die Stadt ist auch nicht mehr so leer, vielleicht, weil wir müde und resigniert sind. Ich sehe nicht mehr nur das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. Ich glaube auch nicht, dass die aktuellen Einschränkungen das Problem sind; niemand will überlastete Intensivstationen und Leid. Aber es ist keine Perspektive erkennbar, es fehlt ein menschliches Ziel. Die Politik schafft es nicht, sich einer Gesamtschau zu stellen – den grossen Fragen, was Leben und Sterben ist. Menschen sind nicht durch die Physik anpassbare Parameter in einem auch noch so notwendigerweise vereinfachten Computermodell. Ich glaube nicht, dass wir die Regeln noch lange mittragen können. Sie sind nicht nachhaltig, wenn wir sie immer mehr als sinnlos empfinden.
Was für Gespräche führen Sie mit Menschen in den leeren Strassen und Gassen?
Meistens weicht anfängliche Skepsis, weil man Angst hatte, in ein gesellschaftliches Minenfeld zu treten, recht schnell, wenn man Empathie signalisiert, dass es schliesslich beim Beurteilen der Situation praktisch immer um die eigenen Ängste geht und es hier kein Richtig und Falsch gibt – egal ob Angst vor einer Infektion, Tod, Existenzangst, Angst vor Freiheitsverlust oder Menschlichkeit. Ich glaube auch, dass die Besserwisserei, der Bundesrat mache alles falsch, mehr Mauern zementiert als sie aufbricht. Natürlich erlebte ich auch Gespräche, wo die Fronten verhärtet bleiben, die Massenmedien tragen dabei wenig Konstruktives bei mit der Vermischung von Information, Wertung und Gefühlen. Traurig ist, dass die Politik unmenschlich wird und sich von den Menschen entfremdet hat, der ganzheitliche Blick fehlt, das Thema ist zu einseitig besetzt. Zudem würden wir den Aufwand scheuen, wären Menschen von weit weg oder die Generation von übermorgen betroffen. Allerding muss ich mich auch selber an der Nase nehmen. Immer wieder lande ich beim Corona-Thema. Das ist übergriffig für jemanden, die oder der sich vor der Situation schützen will.
Welche Probleme kommen Ihnen da am häufigsten zu Ohren?
Das Vakuum über den Lebenssinn, die Ohnmacht, ob das nun die neue Welt sei. Und teilweise von älteren Menschen, dass sie gar nicht gefragt wurden, ob sie diesen Schutz so wollen. Häufig höre ich auch, dass der «Planet vor Corona» gar nicht so gut war. Das Virus spült unsere Schwäche ans Tageslicht. So erzählte mir ein Kunde bei seinem Bohneneinkauf: «Seit 1970 wurden die Menschen in der Schweiz 12 Jahre älter. Klar wird der Anteil in der Bevölkerung, der anfälliger auf Viren ist, immer grösser. Wie wäre es, wenn wir anstatt 13 oder 14 Jahre mehr anzustreben, beginnen, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir die geschenkten Jahre denn endlich leben wollen?» Wir streben nach Quantität statt nach Qualität. Und jetzt sind wir überfordert, weil der «Turm zu Babel» einstürzt. Wenn wir bei solchen Diskussionen ankommen, spüre ich Corona als Chance. Ich habe die Befürchtung, dass wir das Fenster nicht nutzen und beim nächsten Virus wieder gleich weit sind.
Wie hat sich ihr persönliches Leben seit Corona verändert?
Einerseits der Tagesblauf – ich bin direkt von den Massnahmen betroffen mit meinem Kaffeehaus. Sich über Änderungen informieren, Anträge stellen, sehen wie die Identität des Kaffeehaus verschwindet, kreativ werden, um meine Geschichte zu retten. Sich wie eine Marionette fühlen. Immer von Corona umgeben sein, was mich auf Dauer krank macht. Sich erklären müssen. Absagen, trotzdem planen. Den Kaffeebauern auf der anderen Seite der Welt signalisieren, dass wir weiterhin Rohbohnen kaufen, weil wir für Private daheim oder neu für ein Altersheim in Horgen rösten und sie darum nicht um ihr Leben bangen müssen. Das Gute für mich: Meine Angst vor der Endlichkeit ist kleiner geworden, weil diese Leben erstickt. Oder ach so wichtige «Baustellen» im Alltagsgeschäft erscheinen etwas kleiner. Daheim verschönern wir unsere Wohnung, sie ist wie neu. In der Schweiz ist es schon auch ein Luxusproblem. Ich habe viel Zeit, um nachmittags das Kaffeehaus beim Bohnenverkauf mit Gesprächen zu füllen und meinem Projekt Sinn zu geben. Das ist auch ein Privileg. Trotzdem finde ich es relevant, sich als Mensch in einem reichen Land in einer vergleichsweise sicheren Lage Sorgen zu machen.
Was hat Sie dabei am meisten geprägt?
Dass ich das Jetzt wiederentdeckt habe. Die bewusste und einvernehmliche Entscheidung, gerade jetzt miteinander Tango zu tanzen, ist magisch. Zu verstehen, dass es mich befreit, wenn ich ändere, was ich ändern kann anstatt mich einzusperren mit meinen Gedanken. Darum habe ich diesen Vorstoss eingereicht. Aber auch, dass es hilft, zu akzeptieren, was man nicht ändern kann. Das erneute Bewusstsein, dass der geschmacksexplodierende Espresso nur wenn er im öffentlichen Raum aus einer dickwandigen Tasse getrunken wird, bedeutet, miteinander Geschichten zu schreiben. Diese Schärfung der Sinne zeigt, dass ich als Unternehmer flexibel und kreativ sein muss, um meinen Betrieb zu retten, doch dass ich genau so authentisch bleiben will und niemals «coffee to go» anbieten darf. Weil es für mich nicht stimmt. Ich darf den Stolz auf meine Werte nicht verlieren. Ich stehe für Kaffee mit Haltung. Das spüren die Menschen. Auch darum lief das Geschäft über den vergangenen Sommer bis zur zweiten Schliessung im Dezember gut.
Auf einer Skala von 1-10. Wie sehr haben Sie die Nase voll von allen Corona-Massnahmen?
10! Ausser, dass wir uns vermehrt Hände waschen oder man in den Arm hustet…
Welche Lockerungen wünschen Sie sich am Mittwoch vom Bundesrat?
Das sofortige Öffnen mag verlockend klingen. Aber für mich persönlich ist es nicht fertig gedacht. Ich habe keine Freude, meinen Betrieb zu führen, wenn es zu zwanghaft wird, mit den Masken, Verboten und der Angst im Nacken, neue Regeln aufgebrummt zu erhalten und der Bundesrat implizit sagt, man solle zwar Geld ausgeben; aber sich ja nicht wohl fühlen, am liebsten doch zu Hause bleiben. Ich kann persönlich besser damit umgehen, wenn das Kaffeehaus noch länger geschlossen bleibt, ich emotional Abstand halten kann, und dafür später hoffentlich ungezwungen und lustvoll öffnen kann – mit echten Perspektiven. Klar ist, dass dies nur geht, wenn der Staat uns dafür in der Konsequenz bedingungslos entschädigt – er verzerrt ja den Markt. Dies ist kein Betteln, es steht uns zu. Dass diese Haltung von mir auch egoistisch ist, weiss ich. Wir verbauen damit einer jungen Generation Perspektiven, hinterlassen Schulden. Unsere Solidarität ist eine Einbahnstrasse. Ich habe darum den Anspruch an mich, dass das Geld mich nicht zum Schweigen bringt.
Wie gross ist für Sie der wirtschaftliche Schaden für Ihr Kaffeehaus in St.Gallen? Und wie gross der emotionale?
Wirtschaftlich war es im 2020 «nur» ein Minus von 11 Prozent, unter anderem auch dank des Bohnenverkaufs und kleiner Interventionen im Alltag. 2021 wird es klar schlimmer, da die umsatzstärksten Monate des Jahres wegfallen. Wirtschaftlich gibt es aber immer einen Plan B im Leben. Emotional ist es für mich schlimmer. Mit einem Horizont in Sicht wäre es für mich tragbar. Aber ich frage mich, was ist unser Ziel? Die Überlastung der Spitäler zu verhindern leuchtet mir ein, auch wenn wir die psychische Gesundheit dabei nicht vergessen sollten. Aber wenn ich höre, dass es auch nach der Impfung weitergehen soll, verstehe ich das Ziel einfach nicht mehr. Hat ein Kaffeehaus, Ort der Utopien und Luftschlösser, überhaupt noch Platz «postcorona»? Wenn ich lese, man soll in Zukunft «für immer» seine Kontaktdaten angeben müssen, wenn man in eine Gaststätte geht, verliert dieser Ort den Zauber, eine unverbindliche Oase der Zerstreuung im Alltag zu sein.
Ihr grosses Hobbie ist Tangotanzen. Konnten Sie dem trotz Corona nachgehen?
Ja. Hin und wieder selektiv und einvernehmlich mit wenigen Partnerinnen. Ohne Maske. Wenn mir eine Partnerin sagt, sie wolle vor Weihnachten nicht tanzen, da sie dann ihre Grosseltern besuche, finde ich dies einen sinnvollen Weg. Das nenne ich Eigenverantwortung und Konsequenzen tragen. Das ist übrigens auch ein Wunsch: Dass wir von den Behörden befähigt werden zu denken und Verantwortung zu übernehmen. Das funktioniert aktuell schlecht, nicht weil wir zu dumm sind, sondern weil wir erzogen wurden von einem System, uns nach Regeln zu verhalten. Ich kann verzichten. Aber ich mag es nicht, wenn man mich degradiert.
Sie lebten schon an vielen Orten in der Welt. In Buenos Aires, Sevilla und Barcelona. Wie sehr vermissen Sie das Reisen?
Nicht mal so sehr. Es fehlt ein wenig. Doch ich gebe zu, dass ich teilweise dieser oberflächlichen Quantität verfallen war, obwohl ich schon immer lieber an einem Ort «leben» wollte anstatt möglichst viel zu sehen. Das Reisen hat in den letzten Jahren an Qualität verloren. Viele Orte riechen und klingen gleich, sie sind unecht geworden. Hier sehe ich dank Corona Chancen: Eine Lösung sehe ich nicht nur in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der Gesundheit, sondern es geht auch darum, dass die Entstehung neuer Viren häufig menschgemacht ist und Früchte einer Wirtschaft sind, die Externalitäten nicht berücksichtigt. Hier ist eine Wertschätzungsdebatte nötig anstatt das Problem mit Masken unter den Teppich zu kehren – auch bezüglich unseres Freizeitverhaltens. Das klingt arrogant für einen Jugendlichen, da ich ja diese «unbegrenzten» Möglichkeiten hatte. Aber die Momente, die mich nährten beim Reisen, waren nicht das Abklappern von Hotspots.
Welchen Ort werden Sie als erstes besuchen, wenn Corona Geschichte ist?
Einen, wo man sich anlächeln kann, tanzen, leben. Tangoferien auf Ischia wären schön.
Was möchten Sie mit Ihrem politischen Vorstoss erreichen?
Einen Betrag leisten, damit wir aus dieser Endlosschlaufe von Lockern und Verschärfen kommen, eine Auslegeordnung. Wenn unser Fokus bei den Fallzahlen bleibt, wird Corona nie enden. Das Virus muss Teil unseres Lebens werden. Die Impfung bringt das Ende dieser Pandemie, wenn es nur darum geht, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Aber ihr Ziel und das der Massnahmen darf nicht eine «Gesundheitsoptimierung» sein, wo wir möglichst keimfrei bleiben, um stumm und lange Jahre den Konsum anfeuern zu können, aber unser Immunsystem dabei vernachlässigen. Wir müssen uns aus dieser Ohnmacht befreien und dürfen nicht nur den Geschichten der Fallzahlen eine Bühne geben – mögliches Long-Covid hin oder her. Das klingt arrogant von mir, weil es meine Einfache Anfrage an den Stadtrat ist. Doch um aus dieser krankmachenden Dynamik rauszukommen, müssen Initiativen wie mein Vorstoss auf der Welt viral gehen. Das Ziel kennen wir bereits. Artikel 1 der Weltgesundheitsorganisation heisst: «Gesundheit ist ein Zustand des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, und nicht das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.» Auch das ist Solidarität mit vulnerablen Menschen, und die Nebenwirkungen, die wir hinterlassen, darf nicht Krankheit zweiter Klasse sein. Ich will diesen Infizierten eine Stimme geben – auch da ich mich teilweise dazu zähle.
Auf was für Antworten hoffen Sie vom Stadtrat ?
Für mich ist es herablassend und einfallslos von einer monothematisch besetzen Task Force, ohne ethische und philosophische Sichtweise, der Politik zu infiltrieren, die aktuelle sogenannte Strategie sei alternativlos, und nur mehr von der gleichen Medizin sei wirksam, obwohl sie bis anhin nicht nachhaltig genützt hat, und nur weil es der Nachbarstaat auch so tut. Entwicklungen von Ländern mit lockeren Massnahmen unterscheiden sich für diese These für mich zu wenig von Ländern mit harten Regeln. Der einseitige Fokus zeigt auch, wie gut es uns abgesehen davon immer noch geht. Ich bin sicher, dass es nach so langer Zeit möglich sein sollte, alternative Ideen zu entwickeln, um nachhaltig gezielt, effizient und kreativ den Menschen Schutz zu bieten, die dies möchten. Dass der Stadtrat dazu wenig beitragen kann und Entscheidungen nicht lokal gefällt werden, ist mir klar. Aber wenn er sich mit meinen Fragen befasst und Antworten finden muss, kann er vielleicht besser im Austausch mit kantonalen und Bundesbehörden darlegen, wie es um das Wohlbefinden seiner Stadt steht. Und unsere neue Stadtpräsidentin kämpft wie eine Löwenmutter für alle Menschen in ihrer Stadt. Man wird ihr zuhören.
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